Janet Kinnert: Gneis

"Unser größter Streit war von der Absurdität ausgelöst, dass du sagtest, man bräuchte das Leben einfach nur leben. Anfang des Jahres ha...

"Unser größter Streit war von der Absurdität ausgelöst, dass du sagtest, man bräuchte das Leben einfach nur leben.
Anfang des Jahres hatten wir als erste Schlagzeile des Neujahrs nicht, wie eigentlich erwartet, irgendetwas über das politische Superjahr gelesen, das folgen sollte, sondern von verbrannten Tieren. Eine Himmelslaterne, die man in der Silvesternacht mit Wünschen hatte fliegen lassen, war vom Wind geleitet in den Käfig eines Affengeheges gelandet und hatte dort die verkohlten Überreste von vierzig menschennahen Säugetieren hinterlassen. Was darauf folgte war, und ich kann gar nicht mehr nachvollziehen, wie es dazu kam, der gegenseitige Schlagabtausch darüber, wer von uns zynischer mit der Welt umging und wie wir mit der Grausamkeit von Zufall, Raum und Zeit verfahren. “Einfach nur leben ist das Dümmste, was je aus deinem Mund kam”, sagte ich wohl irgendwann und du warst dermaßen wütend darüber, dass du herausgestürmt bist, in dem wohligen Wissen, dass ich unsere Wohnung nicht verlasse.

Ich fand dich irgendwie befremdlich. Mir gefiel das. Deine Stimme hat genauso zum Bleiben eingeladen wie dein Blick auf meinen Mund. Wir hatten den Taxifahrer gebeten, uns an der dunkelsten Stelle der Stadt herauszulassen, er hatte keine Fragen gestellt. Wir brauchten sehr wenig, um sehr viel ineinander zu sehen. In deinen hellen Augen und dem Blick, der so oft nach unten gerichtet war, wenn du zuhörtest und du in meiner Geste, auch dann die Arme zu verschränken, wenn es keinen Grund dafür gab. Und zwischen all dem unwichtigen Unsinn, der aus Verunsicherung in unser Gespräch fiel, sagten wir Dinge, die von Bedeutung waren. Zögerlich öffnend. Und du warst da und hast danach gefragt und saßest dort neben mir, auf der Sitzbank, spätabends, und fragtest, ob mir kalt sei. Mir gefiel das.

Ich bemerke inzwischen den Bruchteil an Dialogmoment, in dem mein Gegenüber zögert und sich dann dafür entscheidet. Dafür, etwas zu erzählen, was man vielleicht nicht jedem Menschen erzählen würde. Es ist der Moment, der für mich das Gespräch zu einem macht, das über eine oberflächliche Freund- oder Bekanntschaft hinausgeht, ab dem Moment ist es eines, in dem man Intimität aufbaut. Nähe. Weil man zum Mitvertrauten von etwas wird, das der andere wohlbehütet in sich aufbewahrt. Ich liebe diesen Moment, weil ich zu beobachten glaube, dass mein Gesprächspartner größer wird. Unsichtbar klappt sich ein Netz aus, eine Karte. Eine Person entfaltet sich in Komplexität von Familiengeschichte, Zweifeln, Sorgen und Vergangenheit. Man ist dann nicht mehr bloß das, was man mal war, man ist jetzt auch zusammen etwas, man schützt gemeinsam.

*


Ich weinte sieben Monate von dem Moment an, an dem es wahr wurde. Trauer. Du sahst mir dabei zu und versuchtest alles. Ein intimer Tanz mit dem Tod, als würde man mit der Zunge über die zu scharfe Messerklinge fahren und den Geschmack von Blut erwarten.

Ein Splitter in der Wunde war das, was mir geblieben ist. Du wolltest ihn dir ansehen, mir und dir damit helfen und ihn entfernen, mich ermuntern. Aber jedes Mal fasstest du ihn an, in mein Fleisch hinein, du drehtest ihn, du drücktest, pustetest und all der Dreck an deinen Händen fiel hinein. Ich hatte aufgehört. Einfach so, irgendwann. Die Gegenrede verstummte. Wenn du mit mir sprechen wolltest, war das ein Gewährenlassen. Mein Gesicht, von dem du jede Pore kennst und es immer weiter studiertest, es war irgendwie glatter geworden. Nachts, wenn du wach lagst, tipptest du mit deinen Fingern zart auf meinem Bein, als würdest du Klaviersonaten spielen. Ich bemerkte es nicht. Hörte nie die Lieder, die du spieltest, nur das sachte Tippen deiner Fingerkuppen. Es war so traurig still, dass ich mich nicht rührte. Jede Bewegung wühlte den Staub auf, der als Last und Erinnerungen auf meiner Haut und meinem Haar lag. Ich blieb still. Es geht mir gut, es geht mir schlecht, such dir aus, was du spielst.

Sein umschließt Nichtsein. Mich reizt nicht das, was bleibt, sondern dasjenige, was schwindet. Die Eigenheit, dass manche Dinge durch ihre Abwesenheit erst existieren oder größer werden. Bedeutungswachstum dadurch, dass etwas verschwindet, unmerklich oder in einem Fingerschnippen, etwas gegangen ist, man aber weiß, dass es doch mal genau dort war oder auch noch immer dort sein könnte. Es gibt Entitäten, die sich durch Leere und die Begrenztheit und Abgrenzung des Anderen definieren. Etwas ist dadurch, weil es nicht ist.  Nicht mehr vielleicht, Verlust von Präsenz: etwas ist anders, etwas ist nicht und dadurch neu.

*


Ein Museum wird geschlossen. Ein Porno ist abrupt vorbei. Ein Säugling stirbt. Der Süchtige nimmt sein Methadon. Der Tod eines Menschen ist das eine, das andere ist das Abreißen von Verbindung. Man trauert um die Wirksamkeit, das Wirken, das in jeder Beziehung erlischt und jeden sorgsam gespannten Faden mit nur einem Schnitt zerteilt und fallen lässt. Es ist nicht das Sterben allein, das erschüttert, Einsamkeit und Ungläubigkeit hinterlässt. Es ist auch nicht das alltägliche Sterben von Unschuldigen in der Welt, das so fremd, so weit entfernt scheint. Es ist die Beziehung, die man selbst gesetzt hat, die unterbrochen wird, die man noch fühlt, aber de facto nicht mehr existiert. Es ist der Schmerz dieser Klage und damit ist es immer auch das, was hätte noch können, was betroffen macht, was nicht mehr wird und nicht mehr kann. Ein Säugling stirbt. Alles Geschehene lebt weiter, das noch nicht Geschehene stirbt mit. Die Zukunftsbiographie, die Negierung von Entfaltung, das Potenzial. All das und all das, was Person und Persönlichkeit ausmachten, das ist nicht mehr fassbar, höchstens denkbar. 

Manche Gedanken dauern Jahre an. Du hast nicht gewusst, dass das, was wir haben, umfasst werden würde von einem dieser Gedanken, der sich auch um dich und das Uns gesponnen hat, uns manchmal wiegt, manchmal zerdrückt hat. Dass du dich immer nur kurz fröstelnd mit den Händen über die Oberarme fahrend umgesehen und dich gefragt hast, was das wohl war.


*


Du sprichst mit mir, als sei ich klug. Als sei ich stark und besondes. Du hast es auf eine Weise getan, als würdest du es tatsächlich glauben. Du hast nie den Jungen vergessen, der du mal gewesen bist. Jener, der nach der Schule von dem Nachbarsmädchen im Hinterhof geküsst und von da an von ihr ignoriert wurde. Du hast Glück gehabt, weil du zu jemandem geworden bist, der glaubt, Liebe würde reichen. Du, der dachte, das Aushalten dieser und jeder neuen Tragik sei der Inbegriff von Romantik.

Nachts weckt mich eine alte Frau auf. Sie hat ein leeres, ein glattes Gesicht, schreit mich an und lässt nicht los von meinen Schultern, auf denen sie tanzt, mich gewaltvoll schüttelt und warnt. Ich sehe all das, was du nicht wissen kannst. Sehe am Bahngleis Leichen, die nicht mehr zu retten sind, sehe die stoßende Hand im Rücken, den falschen Schritt, den Fall, das versäumte Bremsen, das pervertiert laute Quietschen und Quetschen von Körperteilen und Stahl. Ich sehe Liegen, Kittel, Tropfe, sehe Blut und geöffnete Särge und all die leichte Liebe, die in ihr verstummt. Sehe das Alleinsein. Nach einigen Minuten lässt mich die Frau wieder los, tritt einen Schritt zurück, verneigt sich. Dann sehe ich sie nie wieder.
Am Morgen trinke ich den Kaffee erst als er kalt ist. Wenn man “Suizid auf Bahngleis” googlet, kann man etwas über Haftpflichtversicherungen lesen.
“Wir glauben nur, wir haben Kontrolle.”
“Naja, es gibt Experten, es gibt immer Anzeichen, denen man folgen kann.”
“Auch in einem Krankenhaus kann man innerlich verbluten. Du willst doch nicht wirklich, dass ich daran glaube, an Anzeichen?”
Du schweigst, weil du wusstest, wovon ich redete.

 

*

 

In mir ist eine stille Panik. Still, denn das ist unser Geheimnis. Ich spüre sie immer, mag sie inzwischen und sie mich auch. Wir haben einander kennengelernt, wir sind beide an etwas Ernsthaftem interessiert. Ich lasse es mir nicht anmerken. Solange uns nicht klar ist, ob das Zukunft hat, erzähle ich es niemandem, schlucke so stark, wenn du mich fragst, wie es mir geht, dass die Gedanken in meinem Mund verschwinden, bevor ich sie dir zeige. Du willst doch nicht wirklich, dass ich daran glaube, an Anzeichen. Gut soweit, und dir?

Irgendwann begann ich Scham zu fühlen, wenn ich in den Nachrichten von der steigenden Anzahl der Toten hörte. Doch dieselbe Aufmerksamkeit, die mich einst mit einer Art Sehnsucht zu Todesfällen hinzog, entwickelte sich rückläufig bis hin zu einer unabgeschlossenen Gleichgültigkeit. “Ein politischer Putsch”, sagst du, “krass, das wird mal in den Geschichtsbüchern dieses Landes stehen.” Ich schütte mir Orangensaft ein. “Gewaltsame Demonstrationen” sind es das eine, ein “politisch motivierter Terroranschlag” das andere Mal, eine Woche später stirbt deine Tante an Krebs. Die Welt ist irgendwie entrückt, ich schwebe in ihr, fühle mich wohl in der Berechnung. Wenn ich einen Beitrag zu hungernden und verletzten Kindern sehe, die wir nicht füttern, nicht retten, nicht aufnehmen, ist es, als sehe ich auf Landschaften, die leer zu sein scheinen. Jedes weitere Attentat ist mir egal, wird nicht zu Schmerz oder Schock, ich rechne damit. Dich empört das, du bist sauer, weil du schrecklich findest, dass ich das nicht als Wahnsinn erkenne, sondern als Normalität. Die Skandalösität lässt nach und hinterlässt mich in einer Abgekehrtheit. Was bleibt, ist die Mischung von Gleichgültigkeit, wenn ich auf der Couch sitze und in einer Pushnachricht meines Smartphones davon lese, und die Scham, dass ich auf der Couch sitze und in einer Pushnachricht meines Smartphones davon lese. Ich atme, schlucke. Vielleicht war dies einer der Momente, in dem ich meinen Schutzraum fand. Du sprichst weiter, aber ich atme, schlucke und gehe aus dem Raum.

Ich verstehe dich, wenn du das sagst. Verstehe den Schmerz, der daraus spricht und das wehleidige Anklagen meines Verhaltens. Es sind Ermüdungsbrüche, die auf dir liegen. Und kaum beginnst du, wieder schmecken zu wollen, ist das Aroma schon verblasst. Du willst, dass wir Eins sind, weil wir beide zueinanderfindend leben müssen, sagst du. Wir scheitern oder kippen. Wir enttäuschen jedenfalls. Miteinander oder nebeneinander allein. Hineinfallen. Reinfallen. Es nicht mehr herausschaffen. Raus aus dieser Welt und in die Abwesenheit von Furcht.

Nachts siehst du mich plötzlich nicht mehr. Du wachst auf, wirst panisch. Du schaust hinter Türen, in jedem Raum gleich zwei Mal nach und suchst mich. Ich schaue dir zu und schlafe dabei irgendwann wieder ein.


*

 

Paul Valéry soll vom Menschen geschrieben haben, der aus Verärgerung über eine Ratte, die er nicht erreichen, nicht töten kann, sein ganzes Haus niederbrennt. Du willst doch nicht wirklich, dass ich daran glaube. In der paraguayischen Großstadt Asunción löste eine Ratte einen elektrischen Kurzschluss in einem Einfamilienhaus aus, das daraufhin niederbrannte.

Es ist ein archaisches Gefühl die eigene Irrelevanz zu realisieren. Da ist diese Erkenntnis von Geschehnissen, Situationen, Gratwendungen, Momenten, Konsequenzen und Zäsuren, die nicht in der eigenen Macht stehen und darin liegt die mehrheitliche Masse. Wie ein Knoten im Kopf, der sich nicht zu lösen scheint und sich fester und fester zieht, egal, was man versucht und verwünscht. Man könnte auch sagen: Uns wird nun das klar, was von Anbeginn der und unserer Zeit garantiert ist, aber es auszuformulieren, wäre uns zu peinlich. Diese Brüche, diese Enden definieren meinen Tag im Ausnahmezustand: Krankenwagensirenen. Ein Ausgeliefertsein der Welt und in ihr, trotz des Versuches, sich in sich selbst zu verschließen und den Spalt, der unter der Türe übrig bleibt, mit all den Affirmationen zu stopfen, die einem aus dem Fernsehen, einer glücklichen Kindheit und der Vorstellung von Mutterliebe bleiben.

Das Wachsen der Lücke zwischen uns, die ich als Mangel erkannte und du nur als Phase, entstand im Begreifen des Unverständnisses. Du kannst nichts von mir nehmen, was mich erleichtert und nichts auf mich legen, was mir hilft. Konstellationen verändern sich. Das liegt in der Natur der Sache. Man verliert Menschen auf dem Weg. Ein Säugling stirbt. Manchmal zerbricht einen das. Bei mir ist das so. Und gefühlt: Immer wieder. Zu keinem Zeitpunkt weiß ich, ob ich gerade näher an dem Zeitpunkt meiner Geburt oder meines Todes bin. Du willst das nicht, lässt mich nicht brechen und stellst dich gegen mich. Wenn du mich anschreist, dann weil du traurig bist. Verletzt davon, dass ich dich alleine lasse und es selber lieber bin. Wenn du deine Stimme erhebst, trifft mich das, aber ich kann doch eh nichts tun. Ich bin gleichermaßen außer und in mir. Mir geht es gut, mir geht es schlecht. Such dir aus, was du hörst.

Du willst doch nicht wirklich, dass ich daran glaube, an Anzeichen. Ich war in der Badewanne, als du mir die hölzernen Matrjoschka Figuren zeigtest. Du hattest sie mir von deinem zweiwöchigen Trip mit deinen Freunden mitgebracht. Ich habe nicht verstanden wieso und du zucktest milde lächelnd mit den Schultern. Ich bedankte mich, hielt beim Kuss mit meinen nassen Händen dein Gesicht und verstaute die Figürchen am nächsten Tag im hinteren Bereich einer Schublade, wo ich sie vergesse und mich Jahre später frage, woher ich sie habe."


Foto: Jana Schoop

"Gneis" ist ein literarischer Text von Janet Kinnert, der 2021 den zweiten Preis des Literaturwettbewerbs den litterarium e.V. Bonn erhalten hat. Janet Kinnert, Jahrgang 1993, lebt in Bonn. Als freie Autorin und Campaignerin schreibt sie Essays, Kolumnentexte zu einer gerechteren Vorstellung und Umsetzung von Gesellschaft und arbeitet im Bereich politischer Kommunikation.

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