Warum wir nicht mehr können – Eine Analyse der Erschöpfungs- Pandemie

Sich um die eigene mentale Gesundheit Gedanken machen und kümmern zu können ist ein Privileg. Wie so viele Privilegien ist es eines, das es ...


Sich um die eigene mentale Gesundheit Gedanken machen und kümmern zu können ist ein Privileg. Wie so viele Privilegien ist es eines, das es nicht sein sollte. Ein Privileg, das für die Ungleichverteilung von Chancen und Kapital sorgt und für die Spaltung einer Gesellschaft durch fehlendes Einfühlungsvermögen von beiden Seiten. Im Extrem gesprochen zwischen den Menschen, die die Möglichkeit haben sich mit ihrem Innenleben zu beschäftigen und für die Yoga, Spiritualität und Achtsamkeit der heilige Gral für jegliche emotionalen wie physischen Leiden sind und zwischen den Menschen, für die Weinen etwas für – in ihrem häufig sexistisch geprägten Jargon – "Pussies" ist und jegliche Anzeichen von emotionaler wie physischer Schwäche in Grund und Boden gemobbt werden. Zwei Extreme, die auf ihre Art und Weise schädlich sind, für unser Zusammenleben und auch und insbesondere für unsere mentale Gesundheit. 

Wie Leistungsdenken jegliche Lebensbereiche infiltriert


Wir wissen, dass das Bagatellisieren von Erkrankungen der Psyche Menschenleben kostet. Durch fatale, finale Folgen wie Suizid und auch durch viel leisere, schleichende Folgen – wie den Verlust an Lebensqualität durch Vereinsamung oder sucht-induzierten sowie psychosomatischen Beschwerden. Aber auch das andere Extrem, das übermäßige Fokussieren auf die eigene Innenwelt kann vorhandene emotionale Leiden verstärken. Diese Form ist dabei weitaus subtiler, da sie vom Aufwind unserer Leistungsgesellschaft getragen wird. „Wenn du nur genug Yoga machst und meditierst,...“ oder „Wenn du nur weniger Gluten und Zucker isst,...“ sind die Heilsversprechen, die uns dazu antreiben, auch in unserer Selbstfürsorge das bestwirksamste Maß anzulegen. Wir orientieren uns damit an den Grundpfeilern des Kapitalismus, bei denen die beständige Akkumulation von Kapital mit der Akkumulation von Yoga-Stunden und Achtsamkeitsminuten gleichgesetzt werden kann und die Ausbeutung von Arbeitskraft mit der Ausbeutung unseres eigenen emotionalen Systems und unseres Verstandes, die nach diesen Prinzipien immer und immer wieder in Leistungssysteme eingesperrt werden, statt spielen oder auch einfach mal Langeweile erleben zu dürfen.

Das Resultat: Erschöpfung 

Beide Extreme nähren vor allem eins: Emotionale Erschöpfung. Erschöpfung durch das energiezehrende Aufrechterhalten einer Amplitude, die keinen nachhaltigen Bestand haben kann und der Ausschlag in die Gegenrichtung nur eine Frage der Zeit ist. - Wir sehen es unter anderem bereits seit Jahrzehnten in der Werbebranche, sowie seit einigen Jahren in der Start-Up-Szene, selbst bei jenen, die unter der New-Work-Flagge segeln. Hochproduktive Systeme, getragen von den besten und kreativsten Köpfen unserer Zeit. Systeme, die weder auf ökologische noch emotionale Nachhaltigkeit ausgelegt sind, sondern auf Gewinnmaximierung.


Die Leidtragenden dieses Systems sind jene,
mit deren Hoffnungen gespielt wird.


Mit der Hoffnung vom Aufsteigen, der Hoffnung auf eine bessere Entlohnung, der Hoffnung, dass es nach der nächsten Projektphase etwas ruhiger wird, der Hoffnung im Urlaub etwas runterkommen zu können, der Hoffnung auf Anerkennung und Teil einer prestigeträchtigen Industrie zu sein, die sich so wenig für die mentale Gesundheit ihrer Arbeitskräfte interessiert wie um die Konsumentin und den Konsumenten, die und den es zu  überzeugen gilt.

In diesem System wird die menschliche Arbeitskraft (und viele andere Gegenstände) als unendliche Ressource verstanden. Für eine bessere Einschätzung und Kontrolle des Konstrukts wird Lebenszeit in Stunden und Stunden in Stundensätze einkategorisiert. Ein Leben in Zahlen gegossen, die Unberechenbarkeit der Menschlichkeit vergessen mitsamt der leisen und lauten Zwischentöne, die im konstanten Hämmern des 0/1-Kommandos untergehen. Wir schauen auf eine wachstumsgetriebene Einsamkeits-Maschinerie, die uns wahlweise mit Konsum und/oder Betäubung belohnt. Ein selbsterhaltendes System, das auf vielen Ebenen Misswirtschaft betreibt.



„Keine:r meine:r Therapeut:innen hat mir jemals dazu geraten mehr zu erreichen, mehr zu kaufen oder mehr zu trinken.“ 







Nicht nur die Wirtschaft haushaltet fatal mit Ressourcen, sondern es passiert uns auch selbst, oft tagtäglich. Durch das kontinuierliche Übergehen unserer eigentlichen Bedürfnisse betreiben wir Raubbau am eigenen Körper, an der eigenen Psyche, an unserer emotionalen wie tatsächlichen Umwelt.



Wir müssen den Begriff der Nachhaltigkeit im Arbeits- wie privaten Umfeld um die Nachhaltigkeit der körpereigenen physischen wie psychischen Ressourcen erweitern, denn wie können wir nachhaltig mit den Ressourcen dieser Welt wirtschaften, wenn wir es nicht einmal mit unseren eigenen schaffen?



Die Konsequenz in beiden Kontexten ist immer eine für alle Beteiligten. Denn als Mensch sind wir unweigerlich immer Teil einer Gemeinschaft. Sei es Familie, Kindergarten, Schule, Arbeit, Religion, Hobby, Instagram-Bubble. Sobald unser Herz zu schlagen beginnt, haben wir eine Wirkung auf die Menschen, die uns umgeben und die Wirkung hält an, weit über den letzten Herzschlag hinaus. Das ist etwas, das wir im Sog des Tuns, des Leistungserbringens zu oft aus den Augen verlieren. Dass wir wirken, mit all unserem Tun, aber vor allem mit all unserem Sein. Das Sein, unser Wesen ist so viel mehr als das, was unser Tun je ausmachen könnte und doch übergehen wir es immer wieder, weil Sein die Miete nicht zahlt, keine Awards gewinnt und keine viralen Tweets verfasst.

Der Preis für Gewinnmaximierung ist Einsamkeit 


Wir leben inmitten einer Sucht-Pandemie, in der „Mehr“ die Maxime der Begierde ist und sie hat mit den klassischen Suchterkrankungen eines gemeinsam: Die Sucht ist eine Suche, um etwas in uns zu stillen. Meist die Suche nach Verbindung – zu anderen und zu uns selbst. 
In einem 2017 erschienenen Artikel der Harvard Business Review wurde eine Studie vorgestellt, die eine direkte Korrelation zwischen Erschöpfungszuständen und Einsamkeit feststellen konnte: Dass sich Einsamkeit als ein Gefühl von Erschöpfung manifestieren kann. Viele von uns sind also erschöpft, weil wir zu viel arbeiten und weil wir einsam sind. Erschöpfte Menschen freizustellen oder in den Urlaub zu schicken ist demnach häufig nur Symptombehandlung und das grundliegende Problem wird weiterhin übersehen bzw. als zu aufwändig deklariert. 

Culture eats strategy for breakfast 


Dabei sind die Kosten für Prävention wie bei so vielen Krankheiten, ganz gleich ob physischer oder psychischer Natur, geringer als die Symptom- und Ursachenbekämpfung. Das Etablieren einer nachhaltigen und integrativen Unternehmenskultur, die die mentale Gesundheit ihrer Mitarbeitenden als Hauptfaktor für Erfolg versteht, sollte in den Zielsetzungen moderner Führungsleitlinien verankert sein. Es braucht ein Umdenken und insbesondere ein Umwandeln der Faktoren Zeit, Leistung und Effizienz. Ein hohes Zeit-Investment ist selten gleichbedeutend mit einem hohen Maß an Leistung und Effizienz. Unsere Lebenszeit muss als die endliche Ressource verstanden werden, die sie ist und dass sie sich nicht einmal ansatzweise in 
einen Stundensatz umrechnen lässt. 

Um den mentalen Herausforderungen dieser Zeit zu begegnen, müssen wir unser kollektives Verständnis von Zeit korrigieren. Ein Tag zu Hause kann erholsamer sein als zwei Wochen im Urlaub am Meer. Eine halbe Stunde Brainstorming mit einer ausgewählten Personengruppe kann innovativer sein als drei Workshoptage mit dem gesamten Team. Wir müssen uns von dem Konzept verabschieden, dass das Erreichen unserer persönlichen wie beruflichen Ziele mit einem hohen Zeit- und Leistungsaufwand und viel 
Stress verbunden sein muss.


„Es muss schwer sein oder lange dauern, sonst ist es nichts wert“, greift in unseren heutigen Zeiten nicht mehr und trägt zu einem erhöhten Leidensdruck für alle Beteiligten bei.


Dies gilt unter anderem auch für therapeutische Maßnahmen, gerade im Hinblick auf die zahlreichen Studien mit psychedelischen Substanzen, die massive Behandlungsfortschritte bei Suchterkrankungen, Depressionen und Angststörungen innerhalb kürzester Zeit vorweisen können. 


Das Maß der Dinge finden 


Es gibt viele Wege sich mit der eigenen mentalen Gesundheit auseinanderzusetzen und sie müssen weder aufwändig sein, noch komplexe Verrenkungen beinhalten. Viele der ausgeglichensten Menschen, die ich kenne, haben noch nie in ihrem Leben langfristig meditiert. Stattdessen haben sie ihre ganz eigene Interpretation von Achtsamkeit gefunden und für sich etabliert: sie wandern, angeln, kochen, gehen mit ihrem Hund spazieren. Sie lesen, malen, schreiben oder sitzen einfach nur mit einem Tee auf einer Parkbank in der Sonne. Bei allem Leistungsanspruch übersehen wir die Schönheit, die in den einfachen Dingen liegt. Eine Einfachheit, die ein so grundlegendes Bedürfnis erfüllt, dass sie uns satt macht. Das Bedürfnis nach Ruhe.



Inmitten des Lärms dieser Zeit ist es ein Akt radikaler Selbstliebe, die eigenen Ruhepole und Ressourcen ausfindig zu machen und zu wahren.



Es ist ein entscheidendes Statement für sich selbst und auch für die Außenwelt, die dadurch, ob bewusst und unbewusst, ebenfalls dazu angehalten wird sich mit dem vorübergehenden Stillstand auseinanderzusetzen. Ressourcen können dabei die banalsten Dinge sein und müssen für niemanden anderen Sinn machen außer für sich selbst. Ich empfehle eine Liste anzulegen, mit Dingen, die dir persönlich gut tun. Immer, wenn du etwas Neues findest, was gut tut oder dich zur Ruhe bringt, halte es auf der Liste fest. Die Liste sollte immer griffbereit, zum Beispiel im Handy notiert sein, so dass du darauf zurückgreifen kannst, wenn du merkst, dass deine Stimmung ins Wanken gerät. Dies ist dein persönliches mentales Erste-Hilfe-Set.

Denn das ist es, was wir für eine lebenswerte, nachhaltig denkende und wirtschaftende Welt brauchen: Mehr Menschen, die still stehen; die Stillstand aushalten können, die wissen, was ihnen gut tut und genau diese Dinge für  sich tun; die Ruhe aushalten können, die in sich ruhen. Dieses Grundprinzip von Selbstfürsorge sollte kein Privileg sein und es liegt in unseren Händen es vom Privileg zum Allgemeingut zu machen. Jede:r einzelne von uns ist dafür verantwortlich, dass wir in dem Maß unserer Möglichkeiten Selbstfürsorge praktizieren und achtsam Grenzen setzen. Damit gehen wir immer wieder als Beispiel voran und geben unserem Umfeld dadurch unmittelbar die Erlaubnis die eigenen Bedürfnisse zu ergründen und ebenfalls gut für sich zu sorgen.  


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Carina Stöwe hat sich als Kreativunternehmerin und Strategin für Transformationsprozesse und Endlichkeitsbranding auf die Bereiche Tod und Trauer spezialisiert und arbeitet daran, die Lücke eines gesellschaftlichen blinden Flecks zu schließen. Die gebürtige Mainzerin lebte in den vergangenen Jahren in verschiedenen deutschen und internationalen Städten und fand nach einem knapp zweijährigen Road Trip durch Süd- und Nordamerika ihre Wahlheimat in Hamburg. In der Stadt, in der ihr Vater viele Jahre zuvor aufgewachsen war und in der Nähe er sich das Leben genommen hatte. So einschneidend der Tod und die Verarbeitung des Verlusts war, so sehr ist ihr heute bewusst wie essentiell die Kommunikation über schmerzhafte Erfahrungen wie diese ist und welch persönliches wie auch kollektives Wachstumspotential im offenen Diskurs über den Tod liegt. Durch ihren Podcast  „Am Ende interessiert es jede*n – Gespräch vom Leben und Tod“ und ihre Mitarbeit an der Ausbildung der Trauerbegleitung Vergiss Mein Nie in Hamburg konzentriert sie sich darauf den Austausch über den Tod zu öffnen, um mehr Verbindung und Empathie in der Gesellschaft zu kreieren und Bewusstsein dafür zu schaffen, welchen Einfluss unser Wirken und unser Sein als Menschheit in dieser Welt hat.

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