Der Hype um Sally Rooney - progressiv, problematisch, (anti-)feministisch?
Mittwoch, Oktober 23, 2024Stimme der Millenials, Salinger der Snapchat-Generation, überschätzteste Autorin der Gegenwart – Sally Rooney wird gefeiert und über den Inhalt ihrer Bücher hinaus kritisiert. Sowohl die Kritik als auch das Lob an ihr haben ihre Berechtigung und ich möchte erläutern, warum ich Sally Rooney für eine großartige Schriftstellerin mit einem politischen Bewusstsein halte, das sich aber manchmal undeutlich zwischen ihren Büchern und ihrer Person übersetzt.
Worüber schreibt Sally Rooney?
Der treibende Punkt in Rooneys Geschichten ist die Unordnung und Komplexität zwischenmenschlicher (Liebes-)Beziehungen. Rooney erkundet besonders gerne die Peripherie der sozialen Normbeziehungen. Ihr erster Roman Conversations with Friends (2017), schildert die verwobenen Affären zwischen zwei jungen Studentinnen und einem älteren Ehepaar. Rooney greift Untreue oft als ein Konzept auf, dass nicht zur Trennung, sondern zu polyamoren Beziehungsmodellen führt. Das neue Buch Intermezzo (2024) folgt dabei einem ähnlichen Narrativ wie Conversations with Friends. Der Roman Beautiful World, Where Are You? (2021) pendelt zwischen einem Love-Quadrangel aus vier Perspektiven. Kleinteilige Details und Elemente in jeder von Rooneys Geschichten, wie Erwähnungen der Pandemie, Social Media, dem Klimawandel oder der Wohnraumkrise, sorgen außerdem dafür, dass sich besonders junge Menschen mit ihren Büchern identifizieren können.
“Maybe we're just born to love and worry about the people we know, and to go on loving and worrying even when there are more important things we should be doing. And if that means the human species is going to die out, isn't it in a way a nice reason to die out, the nicest reason you can imagine?”
(Beautiful World, Where Are You?)
Innerhalb der Leser*innenschaft wird gemeinhin die Coming of Age-Geschichte Normal People (2018) als Rooneys bestes Buch angesehen. Ich würde zustimmen. Es folgt den Teenager*innen Marianne und Connell, die eine komplexe On-Off-Beziehung verbindet, durch unterschiedliche soziale Schichten, wechselnde Popularität und mentale Episoden in ihrer Highschool und College-Zeit. Wie auch in ihren anderen Romanen sticht Rooney hier durch ihre Fähigkeit hervor, die abstrakten Emotionen der Protagonist*innen in einer fließenden Introspektive zu Papier zu bringen, die für viele Leser*innen einfühlsam und verständlich ist:
“Das Leben ist das Ding, das du mit dir in deinem Kopf herumschleppst.”
(Normal People, S. 241)
Normal People ist mir als großartige Geschichte im Gedächtnis geblieben, weil Rooney mit Connell einen männlichen Protagonisten geschrieben hat, der mit seiner Identität als junger Mann kämpft und tatsächlich therapeutische Hilfe sucht. War Connell in der Schulzeit noch ein populärer Fußballer, ist er auf dem College eher ein Außenseiter, der sich seiner sozioökonomischen Herkunft in einem akademischen Milieu bewusst wird: “Es war Kultur als Ausdruck der Gesellschaftsschicht, Literatur als Fetisch dank ihrer Fähigkeit, gebildete Leute auf falsche Gefühlsreisen zu schicken, so dass sie sich hinterher den ungebildeten Menschen, über deren Gefühlsreisen sie so gern lesen, überlegen fühlen können.” (Normal People, S. 265)
Rooney bisherigen Romane:
Normale Menschen / Normal People
Die Geschichte einer intensiven Liebe: Connell und Marianne wachsen in derselben Kleinstadt im Westen Irlands auf, aber das ist auch schon alles, was sie gemein haben. In der Schule ist Connell beliebt, der Star der Fußballmannschaft, Marianne die komische Außenseiterin. Doch als die beiden miteinander reden, geschieht etwas mit ihnen, das ihr Leben verändert. Und auch später, an der Universität in Dublin, werden sie, obwohl sie versuchen, einander fern zu bleiben, immer wieder magnetisch, unwiderstehlich voneinander angezogen.
Eine Geschichte über Faszination und Freundschaft, über Sex und Macht.
Gespräche mit Freunden / Conversations with Friends
Frances und ihre Freundin Bobbi, Studentinnen in Dublin, lernen das gut zehn Jahre ältere Ehepaar Melissa und Nick kennen. Sie treffen sich bei Events, zum Essen, führen Gespräche. Persönlich und online diskutieren sie über Sex und Freundschaft, Kunst und Literatur, Politik und Genderfragen und, natürlich, über sich selbst. Während Bobbi von Melissa fasziniert ist, fühlt sich Frances immer stärker zu Nick hingezogen.
Ein intensiver Roman über Intimität, Untreue und die Möglichkeit der Liebe, eine hinreißende, kluge Antwort auf die Frage, wie es ist, heute jung und weiblich zu sein.
Schöne Welt, wo bist du / Beautiful world where are you
Alice trifft Felix. Sie ist eine erfolgreiche Schriftstellerin, er arbeitet entfremdet in einer Lagerhalle. Sie begehren einander, doch können sie einander auch trauen? Alice' beste Freundin Eileen hat eine schmerzvolle Trennung hinter sich und fühlt sich aufs Neue zu Simon hingezogen, mit dem sie seit ihrer Kindheit eng verbunden ist. Sie lieben sich, doch ist der Versuch der Liebe den möglichen Verlust ihrer Freundschaft wert?
Zwischen Dublin und einem kleinen Ort an der irischen Küste entfaltet Sally Rooney eine Geschichte von vier jungen Menschen, die sich nahe sind, die einander verletzen, die sich austauschen: über Sex, über Ungleichheit und was sie mit Beziehungen macht, über die Welt, in der sie leben. Schöne Welt, wo bist du ist eine universelle Geschichte über den Raum zwischen Alleinsein und Einsamkeit und über die Freiheit, sein Leben mit anderen zu teilen – überwältigend klug, voller Klarheit und Trost.
Klassenbewusstsein und Feminismus – das Nebenbei.
Ich schätze Rooneys Romane vor allem für die Themen, die “nebenbei” in die Beziehungen der Charaktere zueinander und zu sich selbst eingewoben werden. In ihnen liegt meiner Meinung der größte Mehrwert. Endometriose, Trauer, plötzlicher Erfolg, soziale Klasse, Schuld, Depression – nur um einige Themen zu nennen. Gerade sozioökonomische Aspekte im Leben der Charaktere und ein soziales Bewusstsein von Klasse sind wiederkehrende Narrative, die in den Beziehungen und Gedanken der Figuren eine Rolle spielen.
„Not to inherit, but to earn. […] Mere privilege he thinks can’t touch what he has so richly acuired.Beauty, culture: yes. Can’t be bought. Reactionary, people call that now.Master’s tools and the master’s house, what would Bourdieu have to say”
(Intermezzo, S. 204)
Rooney bezeichnet sich selbst als feministische Marxistin. Während der marxistische Aspekt durch diese sozioökonomischen Narrative von Klasse und Habitus, die bis zur namentlichen Erwähnung von Bourdieu reichen, offensichtlich wird, bleibt der feministische Mehrwert besser versteckt. Vor allem, weil Rooneys Charaktere manchmal nicht besonders feministisch handeln und mit ihrem Verhalten eher patriarchale Muster widerspiegeln. Intermezzo ist ein perfektes Beispiel dafür: Zwei Männer, die zur Bewältigung ihrer Trauer ausschließlich die Care-Arbeit von Frauen in Anspruch nehmen - in einem Fall sogar von drei unterschiedlichen und für den Charakter anscheinend austauschbaren Frauen. Andere weibliche Figuren begeben sich bereitwillig in finanzielle Abhängigkeit zum Mann oder zeigen sich sexuell unterwürfig.
Trotzdem lässt sich ein facettenreicher feministischer Mehrwert erkennen. Meiner Meinung nach liegt er vor allem in der Sichtbarmachung von Endometriose, dem sozioökonomischen Verständnis von Beziehungen und der Darstellung verwundbarer männlicher Charaktere. Die regelmäßige Darstellung bisexueller Figuren muss außerdem im Kontext der Intersektionalität hervorgehoben werden. Oft bleiben feministische Gesinnungen jedoch informative Erwähnungen am Rand, die in der Handlung eine untergeordnete Rolle spielen. So erfahren wir nur aus den Gedanken eines der männlichen Protagonisten aus Intermezzo, das dessen Bruder sich gegen die Unterdrückung von Frauen einsetzt. Der in diesem Fall erzählende Charakter denkt aber auch, zum Perspektivwechsel sei eine weibliche Partnerin notwendig und andere fragwürdige Dinge über Frauen, die verdeutlichen, dass Rooney nicht immer eine feministische Perspektive in den Vordergrund stellt:
„Such a relationship by its nature excites feelings of protectiveness
and even a sort of awed reverence on the part of the man towards the woman.“
(Intermezzo, S. 152)
Es liegt mir als Mann fern, darüber zu urteilen, ob Sally Rooney eine gute oder schlechte Feministin ist. Ich denke, sie bildet in ihren Romanen die unperfekte, oft schmerzvolle Realität unserer Welt ab. Ihre weiblichen Figuren sind nicht immer starke, unabhängige Vorbilder, und Männer bleiben oft in ihrer emotionalen Entwicklung stehen. Die wahre Stärke ihrer Geschichten liegt für mich in der glaubhaften Darstellung komplexer Beziehungen und den involvierten Emotionen in einer fließenden und doch simplen Prosa. Rooney zeigt eine Welt, die zwar nicht post-patriarchal ist, aber umso echter wirkt, weil sie uns vertraut ist. Vielleicht ist Sally Rooney deshalb auch, wofür ich sie halte: Eine großartige Schriftstellerin mit einem feministischen und politischen Bewusstsein, das sich aber nicht unbedingt in ihre Bücher übersetzt.
Sally Rooneys politische Persona und Kontroverse
Vielleicht würde Rooney dieser Aussage sogar zustimmen. In Interviews ist sie stets bemüht, zwischen ihren Geschichten als Kunst und ihren politischen Aussagen als Person der Öffentlichkeit zu trennen. Als Letztere hat sie sich häufig politisch geäußert: 2018 sprach sie sich für verfassungsrechtlich geschützte Abtreibungsrechte in Irland aus. 2021 verweigerte sie dem israelischen Verlag Modan als Unterstützerin der „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS) – Bewegung die Übersetzungsrechte ihrer letzten beiden Romane ins Hebräische, um sich so gegen die israelische Politik gegenüber den Palästinenser*innen auszusprechen. Die BDS-Bewegung wird in Deutschland vom Verfassungsschutz als extremistischer Verdachtsfall beobachtet. Unterschiedliche Stellen werfen ihr antisemitische Methoden vor. Rooney selbst begründet den Boykott unter anderem damit, dass sie als Irin Angehörige einer in der Vergangenheit kolonial unterdrückten Bevölkerung sei und die Bekämpfung von Unterdrückung und Apartheid, welche sie Israel vorwirft, ihre moralische Verpflichtung sei. Seitdem wird ihr regelmäßig Antisemitismus vorgeworfen.
Es liegt nicht in meinem Interesse, an dieser Stelle über Recht und Unrecht im Nahen Osten zu urteilen, denn dazu steht mir keine Deutungshoheit zu. Jedoch möchte ich Rooneys Glaubwürdigkeit bei der Trennung von Kunst und der politischen Haltung der Künstlerin infrage stellen. In einem kürzlichen Interview mit der New York Times betonte sie erneut: "Art has an autonomy from the world of political urgency”. Trotzdem setzt sie ihre Kunst – oder den Vorenthalt ihrer Kunst für eine gesamte Sprachgemeinschaft, die nur in Israel staatliche Repräsentation genießt, als Waffe gegen diesen Staat ein. Selbst wenn ihre Intention hinter dem Boykott nur die Kritik der israelischen Regierung ist und sie keine antisemitischen Ressentiments hegt, was ich selbst glaube, trifft ihr Boykott dennoch mehr Menschen, als sich an der Politik einer Regierung verschulden können und noch dazu eine mehrheitlich jüdische Sprachgemeinschaft.
Fazit
Sally Rooneys Fähigkeit und Erfolg dabei Geschichten zu erzählen, die gleichzeitig intim und universell, persönlich und politisch sind, macht sie zu einer der wichtigsten Autor*innen der letzten Dekade. Dennoch halte ich es für schwierig, sie als „Stimme einer Generation“ zu bezeichnen, denn es verleitet nur zum Verlust der Verhältnismäßigkeit bei ihrer Beurteilung. Sie hat als Autorin die Fähigkeit demonstriert, die emotionalen und sozialen Komplexitäten junger Menschen in einer postmodernen Welt abzubilden, ohne einfache Antworten zu geben. Sie zeigt uns Charaktere, die Fehler machen, die patriarchale Muster reproduzieren und die in ihren inneren und äußeren Kämpfen zerrissen sind – genauso, wie wir es aus unserem eigenen Leben kennen.
Ich plädiere dafür, ihr Werk als wichtige Gegenwartsliteratur zu betrachten gleichzeitig die Kontroverse um ihre Unterstützung der BDS-Bewegung im Blick zu behalten. Sally Rooney zu lesen und feministisch zu diskutieren heißt, sich diesen Widersprüchen zu stellen.
Simon Peters hat Politikwissenschaften, Soziologie und Geschichte in Bonn studiert. Seine Schwerpunkte in seinen studierten Fachbereichen sind Internationale Beziehungen und Soziale Gerechtigkeit. Persönlich kann er nichts mit klassischen Rollenbildern anfangen, daher liegen ihm im Rahmen von Sans Mots die Themen Männer und Feminismus und Mental Health besonders am Herzen. Simon begeistert sich so sehr für jede Art von Musik, dass seine Freund*innen mutmaßen, er sei als Kind in eine Plattensammlung gefallen. Hier versucht er diesen Themen gerecht zu werden und sie in einen Kontext zu setzen.
Zum Weiterlesen:
Bundeszentrale für politische Bildung (2021): Antisemitismus in der BDS-KampagneNew York Times (2024): Sally Rooney Thinks Career Growth Is Overrated.
Poppy Sowerby (2024): Why feminists love to hate Sally Rooney
The Guardian: “The bombs are still falling. My heart breaks every day.”: Novelist Sally Rooeny and Isabella Hammad on the Israel-Palestine conflict
0 x