Und sonst so? | Von der Selbstverständlichkeit der Begegnung
Samstag, September 14, 2024Ich bin 29 Jahre alt als ich das erste Mal von der Halacha lese. Die Halacha, das ist das jüdische Religionsgesetz, die Lehre zur religiösen Praxis im Judentum. Ich erfahre davon an einem Dienstagabend, 22:44 Uhr, im Bett liegend mit dem Buch „Basiswissen Judentum“.
Ein halbes Jahr zuvor schreibe ich meiner Freundin Helen spätabends eine Nachricht „Geht es allen deinen Verwandten gut? Sind alle in Sicherheit?“ Es ist die Frage, ob all ihre in Israel lebenden Familienmitglieder noch leben, unversehrt sind. Es ist der Abend des 07. Oktober 2023, des Tages des terroristischen Angriffs der Hamas auf Israel. Und es ist ein erstes Mal für mich; ein erstes Mal, von dem ich glaubte, dass es nie einträte – das erste Mal, dass ich damit rechne, dass die Familie einer mir nahestehenden Person von Krieg bedroht ist. Das mag ein naiver Glaube gewesen sein, aber wie sich später herausstellen wird gibt es viele Dinge, von denen ich nichts ahnte.
„Es sind aktuell wieder alle in Sicherheit aber ich habe bis gerade mit meiner Tante telefoniert. Sie hat aufgelegt als sie Raketen gehört hat“ antwortet Helen mir. Die darauffolgenden Tage sind geprägt von Nachfragen nach ihrer Familie, anhaltenden Brennpunkt-Sendungen und Berichten zu antisemitischen Übergriffen in Deutschland. Und für mich vor allem: dem Wahrnehmen der Angst meiner Freundin, der blanken Angst, um die Familie in Israel, aber eben auch vor einem veränderten Klima in Deutschland, vor der Bewegung als Jüdin im öffentlichen Raum. Das fasst mich in einem Maße an, das mich selbst überrascht und es vergehen Tage, ein paar Wochen sogar, in denen ich mich rat- und hilflos fühle. Ich möchte nicht, dass meine Freundin Grund zur Angst hat, sich bedroht fühlt aufgrund ihrer Religion, die so grundlegend zu ihrer Identität gehört, eben jener Identität, die ich so sehr liebe.
Ich möchte sie beschützen, ich denke das kann ich nicht. Aber zumindest ein Gefühl von beschützt sein möchte ich ihr geben, von nicht allein sein. Ich öffne Instagram, ich sehe die Stories und Beiträge von spontanen Kundgebungen, sehe samstagsmorgens aus meinem Küchenfenster die Israel- und Friedensflaggen auf dem nahegelegenen Platz wehen, sehe immer häufiger den „Nie wieder ist jetzt“-Schriftzug. Es vergehen Tage, es vergehen Wochen, eines bleibt: das diffuse Gefühl, dass sich keine dieser Solidaritätsformen für mich richtig anfühlt. Gleichzeitig wächst der Wunsch etwas zu tun, aktiv zu werden in einer mir nahen Ausdrucksform, nichts zu wiederholen oder wiederzugeben, sondern Raum und Bühne zu bieten für das, was meine Freundin empfindet. Vielleicht ist meine Möglichkeit diesen Raum zur Verfügung zu stellen, ist mein Werkzeug das Schreiben, denke ich.
Wenige Wochen nach diesem Gedanken sitze ich abends auf Helens Sofa. Was folgt sind zwei Stunden, in denen meine Freundin mir davon erzählt, was es für sie bedeutet, jüdisch zu sein, wie sie in und mit ihrer Religion aufgewachsen ist, wie sie sich heute damit fühlt.
Es sind verändernde zwei Stunden, für meinen Blick auf sie und das Verständnis für ihre Identität, für unsere Freundschaft. Als Helen und ich uns kennenlernen ist sie 33, doch an diesem Abend sehe ich auf einmal ein kleines dreijähriges Mädchen vor mir. Es steht kurz vor Weihnachten mit seiner Mutter im örtlichen Kiosk. Die Verkäuferin schaut es an und fragt „Na Helen, kommt zu dir bald auch der Weihnachtsmann?“ und Helen entgegnet freudestrahlend „Nein, zu mir kommt das Channukah-Männchen.“ Das Channukah-Männchen gibt es (im offensichtlichen Gegensatz zum Weihnachtsmann!) gar nicht, es ist Helens spontane jüdisch-deutsche Entsprechung zum Weihnachtsmann. Was sich im ersten Moment lustig und vielleicht auch ein bisschen absurd liest, ist im Kern das, was mir immer wieder in den Erzählungen meiner Freundin begegnet. Eine Frage der eigenen Identität in einer Gesellschaft, in der das bloße Vorhandensein ebenjener Handlungsdruck auslöst.
Die dreijährige Helen aus dem Kiosk besucht den jüdischen Kindergarten und erlebt einen Alltag in Gemeinschaft. Das gesellschaftliche Leben findet stark mit anderen Juden statt, ob beim gemeinsamen Schabbat oder bei Wochenendausflügen mit anderen Familien aus der jüdischen Gemeinde. „Außerhalb dieser Gemeinschaft war ich immer anders als alle anderen, weil es immer einen Teil meiner Identität gab, den ich nicht mit den anderen teilen konnte.“ sagt Helen, die ich in diesem wie in jedem anderen Gespräch über ihren religiösen Hintergrund als unheimlich stolz auf eben diesen erlebe. „Du sagst ‚Ich bin Jude’ und es gibt sofort ein Ich und ein Du und kein Wir mehr. Die Aussage jüdisch zu sein löst beim Gegenüber in 9 von 10 Fällen entweder Ablehnung oder Erklärungsbedarf aus, was die Großeltern zwischen 1938 und 1945 gemacht haben.“
Mit jedem Wort, das Helen weiter spricht, beginne ich zu verstehen, dass es eine Geschichte der Abgrenzung ist. Gar nicht unbedingt der Ausgrenzung, aber der Abgrenzung. Eine feine Linie, die in dem Moment entsteht, in dem ihre jüdische Identität offenkundig wird, in dem Moment, in dem sie zu einer Minderheit wird.
Es ist nicht ihre Religion, die diese Linie zieht.
Es ist das Fehlen an Beziehung, an echter und ehrlicher Verbindung.
Vielleicht ist es eine Unsicherheit, eine Berührungsangst, die wackelig den Stift führt mit dem wir diese Linie ziehen, vielleicht ist es etwas anderes. In jedem Fall ist es eine Form der Abgrenzung, die ein Wir und ein Du aufmacht und die vor allem eins ermöglicht: Verbindung und damit irgendwann Selbstverständlichkeit. Helen erzählt von der Stimmung der jüdischen Feiertage, von Jom Kippur und Rosch ha-Schana, von dem Duft und der Magie, die über diesen Tagen liegen. Und immer auch: vom Abreißen ebenjener Magie in dem Moment, in dem der schützende Rahmen der Wohnung oder der jüdischen Gemeinde verlassen wird, hinaus in eine eilende, mit dem Alltag beschäftigte Gesellschaft, die hupend an der Ampel nichts ahnt von der Besonderheit dieses Tages.
Und langsam lichtet sich der Nebel meines diffusen Gefühls und ich begreife immer mehr, weshalb sich Demonstrationen und Solidaritätsbekundungen auf Instagram so falsch für mich anfühlten...
Weil sie in ihrer Charakteristik abstrakt sind, unverbunden, weil sie keine Beziehung herstellen zu einem anderen Menschen. Genau dieses in Beziehung gehen ist es doch aber, was uns nachhaltige Verbindung ermöglicht und was über das Bestehen dieser Verbindung Selbstverständlichkeit entstehen lässt. Diese Erkenntnis entzieht Demonstrationen und digitalem Aktivismus nicht die Existenzberechtigung, sie werden dadurch nicht weniger wichtig oder notwendig. Aber sie gibt mir eine Gewissheit in dem, was sich für mich richtig anfühlt, wovon ich mir für uns alle etwas mehr wünsche und was ich selbst herstellen kann: Verbindung. Ich kann Verbindung herstellen, ehrliche, verletzliche, intime Verbindung, in der wir uns als Menschen begegnen und in der sie ihre Erfahrungen und Gefühle in ihrem Jüdisch Sein teilt. Und ich kann eben dieses Wissen in unsere Beziehung integrieren, teilhaben an den von ihrem Glauben geprägten Teilen ihres Alltags, den Schabbat und wichtige Feiertage mit ihr begehen und darüber einer Selbstverständlichkeit den Raum bereiten, die jede Abgrenzung absurd erscheinen lässt.
Helens jüdischer Name lautet Channa bat Ephraim. Nein, ich kann meine Freundin nicht davor beschützen Opfer von antisemitischer Ausgrenzung oder Übergriffen zu werden. Aber ich kann schreiben, vom Begreifen, das mir ihre Erzählungen und ihre Offenheit geschenkt haben, von der anderen Verbindung, die dadurch zwischen uns entstanden ist, und damit vielleicht auch nur in einer anderen Person Neugier auf Selbstverständlichkeit im Miteinander zu entfachen. In der Begegnung, die diese Selbstverständlichkeit entstehen lässt, liegt die ganze Magie, eine Magie, von der ich nie erfahren hätte ohne meine Freundin Helen, ohne meine Freundin Channa bat Ephraim.
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