Nathalie Eckstein: Das Buddenbrook-Syndrom

  Das Buddenbrook-Syndrom bezeichnet eine seltene Fehldiagnose in der Zahnmedizin. Eine koronale Herzerkrankung bleibt dabei bei zeitgleich ...

 



Das Buddenbrook-Syndrom bezeichnet eine seltene Fehldiagnose in der Zahnmedizin. Eine koronale Herzerkrankung bleibt dabei bei zeitgleich auftretenden Zahnschmerzen unentdeckt, wenn eine zahnmedizinische Diagnose für die meist linksseitigen Zahnschmerzen als Ursachenerklärung herangezogen wird.

du liegst an meiner zahnwurzel und eiterst. 

du liegst an meiner zahnwurzel und schmerzt.

friedlich liegst du in meiner dunklen mundhöhle und stellst dich schlafend.

(ich weiß nicht, wie du in mich hineingekrochen bist. du hast mich aufgebrochen mit einer bewegung, mit der man eine frucht aufbricht.)

du liegst an meiner zahnwurzel und blutest und eiterst und pochst.

ich will, dass du gehst.

ich will, dass du bleibst.

Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit.
Bei einer Zahnfleischentzündung sollte man nicht rauchen. Das steht im Internet.
Das verschiebt die bakterielle Zusammensetzung im Mundraum zum Ungünstigen. Auch nach einer Weisheitszahnoperation sollte man nicht rauchen. Weil die Wunde noch offen daliegt. 


(ich lag immer offen vor dir.

wie etwas, das du dir nehmen konntest. 

wie etwas, das du weglegen konntest.)


In Thomas Manns Erfolgsroman Buddenbrooks. Verfall einer Familie raucht der älteste Sohn der Konsulsfamilie, Thomas, immer kleine scharfe russische Zigaretten. Sein Konsum dieser Zigaretten wird in der Literatur gemeinhin als Zeichen für seinen Hermaphroditismus gedeutet. Eine Verweiblichung, eine Verweichlichung seiner Figur. Er raucht sie massenweise und hatte die schlimme Gewohnheit, den Rauch tief in die Lunge zu atmen, so daß er beim Sprechen langsam wieder hervorsprudelte

Weiß und gelb und braun quellen die Stummel selbstgedrehter Kippen aus dem gläsernen Aschenbecher in meinem Zimmer wie Stümpfe abgebrochener Zahnkronen. Das Nikotin hat sie gelb gefärbt. Die Asche dazwischen ist schwarz wie der Karies. Ich stelle den Aschenbecher auf die Buddenbrooks.


zunächst begann das zahnfleisch zu bluten.

es löste sich in kleinen fetzen, die weich in meiner mundhöhle lagen. 

im körperinneren ist es immer dunkel.

und wenn die welt um dich herum dunkel wird, dann ist es endlich der zustand, der auch in deinem körper herrscht.


Die Haut ist ein Separationsprinzip. Ich bin nach außen begrenzt. Und was wir als Kuppel um ein Zentrum geordnet denken, sind nur unendlich viele Schichten der Oberflächen. Zärtlich zuweilen.

Der Zahnschmelz ist die härteste Schicht. Er endet zwischen Zahnkrone und Zahnwurzel. 


vielleicht ist es zart da.

ich möchte dich dort berühren, wo es zart ist.

wie die haut hinter deinem ohr.


ZAHNFÄULE IN PARIS

Etwas frißt an mir

Ich rauche zu viel

Ich trinke zu viel

Ich sterbe zu langsam


Eine Kursivschreibung in einem Text kann ein Zitat markieren. Ein Titel, eine Referenz. Wie schiefe kleine Steine stehen die Buchstaben. Eine Zahnspange bräuchte man für einen Text.

Als ich ein Kind war, habe ich mir immer eine Zahnspange gewünscht. Ich habe mir auch Krücken gewünscht. Immer, wenn jemand in meinem Umfeld auf Krücken laufen musste, bin ich damit ungelenk herumgestakst. Einmal habe ich welche auf dem Sperrmüll gefunden. Meine Mutter hat mich angebrüllt und mich gezwungen, sie beim nächsten Sperrmüll wieder an die Straße zu stellen. Sie konnte die Koketterie mit dem Leid nie ertragen.

Im Wort „Zahn“ steckt der „Ahn“. Die Ahnung, das Unwissen, das über Generationen Verlorene und Weitergegebene, das transgenerationale Trauma, über das nicht gesprochen werden kann. Die Ahnung, die Mahnung, die Verzahnung ineinandergreifender Ähnlichkeiten, der Hang zum Intellektualismus oder die Augenpartie, die Nase, die man ineinander erkennt, oder der poröse Zahnschmelz, der gestörte Weltzugang. 

In meiner Familie gibt es wenig Zahnprobleme. Wir haben gesunden, harten Zahnschmelz, keine Parodontose, keine zu tiefen Zahnfleischtaschen, keine zu weiche Substanz. Die Frauen in meiner Familie werden sehr alt. Was es in meiner Familie gibt: Einen Chemieprofessor, der an Weihnachten in der braunen Uniform dasaß und vorschlug, man könne doch auch Wintersonnenfest feiern. Einen Bauern, der einen Juden im Schrank versteckt hat. Eine Bauerstochter, die studieren wollte. Einen Archäologieprofessor, der mit dem engsten Mitarbeiter von Martin Heidegger vertraut war. Was es in meiner Familie gibt: Weihnachtsfeste, an denen niemand gesprochen hat. Der Heringssalat wurde probiert. Es wurde gesagt, er schmecke nach Asche. Dann herrschte Schweigen.

Was es in meiner Familie gibt: Depressionen.

…und als dies erledigt war, setzte man sich mit gutem Gewissen zu einer nachhaltigen Mahlzeit nieder, die alsbald mit Karpfen in aufgelöster Butter und mit altem Rheinwein ihren Anfang nahm.

Der Senator schob ein paar Schuppen des Fisches in sein Portemonnaie, damit während des Jahres das Geld nicht darin ausgehe; Christian aber bemerkte trübe, das helfe ja doch nichts…

Der Karpfen, der seit dem 23. Dezember in der Badewanne schwamm. Dick und bräunlich und grau. Er wurde aus der Badewanne genommen, ihm wurde mit einem Holzstück auf den Kopf geschlagen und ein Messer in die Kiemen gestochen. Er wurde ausgenommen. Rot und weiß und blutig die Gedärme. Meistens schmeckte er nicht, denn er hatte gegründelt, also all das, das auf dem Boden des Sees trieb, gefressen.


    du hast meinen rippenbogen aufgebrochen.

    du bist in mich hineingekrochen und hast 

    alles zersetzt.


Eine Zeitlang hat sich jede noch so winzige Verletzung meines Körpers entzündet. Jeder kleine Schnitt, jede Schramme, jeder Riss wurde gleich eine flammende, eitrige Wunde, lief voll mit Wundflüssigkeit, wurde heiß, rot, dick, weiß, zäh, hart, gelblich, eitrig, klebrig, hitzig, wund. Wochenenden in Notaufnahmen, Fieber, Krankenhäuser mit gelbem Linoleumboden, aufgerissenen Augen, aufgerissenen sterilen Verpackungen, Nadeln, die in mich eindrangen, meine Haut perforierten und Flüssigkeiten, die durch meine Haut meinen Körper verließen. Türen, die nicht aufgingen, wenn man daran zog, Menschen, die auf Tragen vorbeigeschleppt wurden, wenn ich noch aufrecht saß, Menschen, die auf Krücken hinkten, das Surren der hellen Lampen, die jede Tageszeit ununterscheidbar machen, der leise Dämmer im Schmerzmitteltraum.

Wer heilt, hat Recht, sagt man über die Medizin. Was ist Diagnostik anderes als Ausschluss, Entfernung eines Überschusses, das Probieren, das Vermessen von Nebenwirkungen, das Basteln, das Zurückrudern, die Fehlbarkeit.

Was heute in der Medizin möglich ist: Organtransplantationen, Medikamente gegen Tropenkrankheiten, Hirnschrittmacher (das Öffnen von Schädeln, das Aufsägen, das Verstauen der Kabel hinter dem Schlüsselbein, das Verlegen der Kabel über den Nacken dorthin), Darmoperationen. Behandlung von Depressionen.


du bist 19 und hast dir eine badewanne eingelassen.

das wasser steht bis zum rand und dampft.

als du dich entkleidest und deine kleidung unter dich fällt  wie vertrocknete hüllen um eine aufbrechende blüte, zitterst du kurz vor kälte.

als du in die badewanne steigst, läuft ein schauder über deinen körper, weil die ihm zugeführte äußere temperatur die seines eigenen marks übersteigt.

oder 

du bist 20 und hast dir eine badewanne eingelassen.

als du dich entkleidest und deine kleidung unter dich fällt wie vertrocknete hüllen um eine aufbrechende blüte, ekelst du dich nur vor deinem 

körper.

als du in die badewanne steigst, fühlst du nichts.


„Weiß jemand von euch“, fragte er, „wie es ist, wenn man zu viel Schwedischen Punsch getrunken hat? Ich meine nicht die Betrunkenheit, sondern das, was am nächsten Tag kommt, die Folgen, sie sind sonderbar und widerlich… ja, sonderbar und widerlich zu gleicher Zeit.“ […] Er schwieg eine Weile, und dann plötzlich schien das, was ihn bewegte, zur Mitteilung reif zu sein.

„Du gehst umher und fühlst dich übel“, sagte er und wandte sich mit krauser Nase an seinen Bruder. „Kopfschmerzen und unordentliche Eingeweide… nun ja, das gibt es auch bei anderen Gelegenheiten. Aber du fühlst dich schmutzig“ – und Christian rieb mit gänzlich verzerrtem Gesicht seine Hände – „du fühlst dich schmutzig und ungewaschen am ganzen Körper. Du wäschst deine Hände, aber es nützt nichts, sie fühlen sich feucht und unsauber an, und deine Nägel haben etwas Fettiges… Du badest dich, aber es hilft nichts, dein ganzer Körper scheint dir klebrig und unrein. Dein ganzer Körper ärgert dich, reizt dich, du bist dir selbst zum Ekel… Kennst du es Thomas, kennst du es?“

Du tauchst bis zum Grund. du liest im Kaffeesatz. du wühlst in den Resten. in dem, was noch da ist. du gehst den Hohlräumen nach und greifst mit deinen Fingern in Leerstellen. das, was übrig bleibt, bleibt dir. Schreiben ist nichts anderes als gründeln. das Sammeln der Dinge auf ihrem Grund, das wühlen in einem Bodensatz.  das zerren allen impliziten in ein explizites, aus dem dunkeln in eine Sangbarkeit.

Meine Weisheitszähne wurden mir unter Vollnarkose entfernt. In einem kleinen OP-Zimmer einer ambulanten Kieferorthopädiepraxis. In einem kleinen angrenzenden Zimmer wache ich neben meiner Mutter auf, die mich abholen soll. Sie hält meine Hand.

WeißtdunochMamadamalsalsichkleinwarundabendsimmerAngsthattevordemSportunterrichtamnächstenMorgendahastduauchmeineHandgehaltenundgesagtichsolleinsBettgehenmorgensäheallesbesserausichseimondscheindepressiv. Als ich langsam schwankend aufstehen kann, kommt der Chirurg mir im Gang entgegen und drückt mir meine blutigen Weisheitszähne in einem kleinen Beutel in die Hand.

Ich erstarre zu Stein und meine Schmerzen dauern an. – Und wenn ich mich nun irrte und es nicht mehr Schmerzen wären? – Aber ich kann mich doch hier nicht irren; es heißt doch nicht, zu zweifeln, ob ich Schmerzen habe! – D.h.: wenn Einer sagte „Ich weiß nicht, ist das ein Schmerz, was ich habe oder ist es etwas anderes?“, so dächten wir etwa, er wisse nicht, was das deutsche Wort „Schmerz“ bedeute und würden’s ihm erklären. […] Er könnte diese Worterklärung, wie jede andere, richtig, falsch oder garnicht verstehen.


du bist 21 und lebst bei deinen eltern.

die schmerzmittel, die du jeden tag nimmst, bringen  

dich in eine merkwürdige stimmung.

es ist dein geburtstag, und du willst nichts, als den ganzen tag die riesigen lilien anschauen, die deine mutter dir gekauft hat.

du bist gerade 21 und wirst ein paar wochen später während eines krampfanfalls auf der treppe im haus deiner eltern zusammenbrechen.

du erinnerst dich erst wieder, als du im krankenwagen aufwachst und dich in eine tüte erbrichst, die dir ein sanitäter hinhält.


Über Schmerzen zu schreiben, muss expressiv geschehen. Es gibt keine Möglichkeit des intersubjektiven Abgleichs,
keine Regel im Sprachspiel.
Ein Text kann nur verstanden werden, wenn er Regeln folgt. Übereinkünfte, Prämissen, die Annahme, ein Spiel, auf das ich mich einlassen muss, einen Pakt, den ich eingehen muss.

Es ist die den positiven Wissenschaften eigene Verwechslung zwischen Koinzidenz und Kausalität. Zwei Phänomene, die zeitgleich, also über Kontiguität verknüpft, auftauchen, werden fälschlicherweise in einen Kausalzusammenhang verstanden. A und B sind damit nicht zufällig, sondern scheinbar ursächlich verbunden.

An einem Zahne… Senator Buddenbrook war an einem Zahne gestorben, hieß es in der Stadt.


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Nathalie Eckstein, geboren und aufgewachsen in Wuppertal. Sie hat Philosophie, Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte in Bamberg und Bonn studiert. Sie hat an verschiedenen deutschen Stadttheatern als Regieassistenz gearbeitet, darunter das Schauspiel der Wuppertaler Bühnen und das Stadttheater Fürth. Als Dramaturgin arbeitet sie auch in einem Theaterkollektiv. Seit Oktober 2020 studiert sie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. In ihrem Bücherregal stehen neben Hegel und Kant auch Theorie zur Ästhetik des Performativen und nischige Literaturzeitschriften.





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