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Kaffee und Zigaretten von Ferdinand von Schirach
Mittwoch, Juni 19, 2019"Ich war damals schon über zehn Jahre Strafverteidiger, aber erst dort im Kino habe ich zum ersten mal ganz verstanden, was Schuld eigentlich ist. Die Psychologen und Psychiater sagen, es gebe keine Schuld, sie denken, solche Sätze würden helfen, und vielleicht tun sie das auch. Aber es stimmt nicht. Wir werden schuldig, an jedem einzelnen Tag."
Einen "außergewöhnlichen Stilisten", nannte der Independent den ehemaligen Strafverteidiger und vielfach ausgezeichnete Schriftsteller. Der Daily Telegraph bezeichnete ihn als "eine der markantesten Stimmen der europäischen Literatur". Ferdinand von Schirach würde vermutlich schmunzelnd und sich duckend entgegnen, dass es sich wohl um eine Verwechslung handeln müsse, dankend nicken und nach seiner Kaffeetasse greifen. Nach Erzählbänden wie "Schuld" und "Verbrechen", seinen Romanen "Der Fall Collini" und "Tabu", sowie seinem Theaterstück "Terror" erschien das nun wohl persönlichste Werk Ferdinand von Schirachs.
"Mark Twain soll gesagt haben, dass er auf den Himmel verzichte, wenn er dort nicht rauchen dürfe. Er hatte recht", schreibt von Schirach, für den eine Zigarette mehr ist als ein Laster: Ein regelmäßiges "memento mori", die Erinnerung des eigenen Daseins im Tod. "Kaffee und Zigaretten" ist eine nüchterne Verwebung an Einzelstücken: Beobachtungen, die kommentarlos verweilen, biographische Einblicke, Notizen aus Rechtsfällen, subtile Begegnungen, absurde Erfahrungen und Nachdenken über die Einsamkeit des Menschen, über Melancholie und ironischer Spiegelung.
"Mark Twain soll gesagt haben, dass er auf den Himmel verzichte, wenn er dort nicht rauchen dürfe. Er hatte recht", schreibt von Schirach, für den eine Zigarette mehr ist als ein Laster: Ein regelmäßiges "memento mori", die Erinnerung des eigenen Daseins im Tod. "Kaffee und Zigaretten" ist eine nüchterne Verwebung an Einzelstücken: Beobachtungen, die kommentarlos verweilen, biographische Einblicke, Notizen aus Rechtsfällen, subtile Begegnungen, absurde Erfahrungen und Nachdenken über die Einsamkeit des Menschen, über Melancholie und ironischer Spiegelung.
"Wir müssen verstehen, wie wir wurden, wer wir sind. Und was wir wieder verlieren können. Als sich unser Bewusstsein entwickelte, sprach ja nichts dafür, dass wir einmal nach anderen Prinzipien handeln würden als unsere Vorfahren, die Affenmenschen. Wäre es nach den Regeln der Natur gegangen, hätten wir unsere erweiterten Fähigkeiten dazu benutzt, die Schwächeren zu töten. Aber wir taten etwas anderes. Wir gaben uns selbst Gesetze, wir erschufen eine Ethik, die nicht den Stärkeren bevorzugt, sondern den Schwächeren schützt. Das ist es, was uns im höchsten Sinn menschlich macht: die Achtung vor unserem Nebenmenschen."
Vor wenigen Menschen habe ich so viel Respekt wie vor dem so hochgradig intelligenten und doch bescheidenem Schriftsteller, der von sich selbst sagt, er habe keine sonderliche Begabung darin, glücklich zu sein. Als ich vor wenigen Wochen in Düsseldorf eine seiner Lesungen im Schauspielhaus besuchte, war ich vollkommen überwältigt von den klugen Worten dieses Mannes und war nur noch beseelter, als ich mich traute, mit ihm zu sprechen und mein Buch von ihm signieren zu lassen. Fast schon zu viel, denke ich manchmal. Kennt noch jemand diesen Gedanken, dass es Menschen gibt, die man für sich so sehr auf ein Podium erhebt, dass es sich fast falsch anfühlt, dass man ihnen nahe kommt? Weil Welten aufeinandertreffen, man sich ansieht und von Schirach ebenso mich, wie ich ihn, er über einen Witz lacht, den ich mache, er sich bei mir bedankt, bevor ich mich bedanken kann. Surreal irgendwie. Für mich jedenfalls.
Mit Referenzen auf Frost ("The woods are loverly, dark, and deep, / But I have promises to keep, / And miles to go before I sleep, / And miles to go befire I sleep."), Godard, Kästner ("Die Vergangenheit muss reden, und wir müssen zuhören. Vorher werden wir und sie keine Ruhe finden.") Eichendorff ("Wir sehnen uns nach Hause. / Und wissen nicht, wohin?"), Sokrates, Hemingway und Camus trifft von Schirach mit jedem Zitat, mit nahezu jedem Gedanken, verwundbare Stellen in der eigenen Gedankenwelt und lässt einen durch seine Präzision und Vielschichtigkeit schweigend zurück. "Kaffee und Zigaretten" wanderte lange in meiner Tasche, obwohl ich es längst bis zum letzten Satz gelesen hatte, war in meinem Koffer nach Dänemark dabei und als Geschenk auch nach Krakau. Das klügste, grandioseste, faszinierendste und traurigste Buch, das ich in den letzten Jahren gelesen haben.
"Die langsamen Tage meiner Kindheit, der Rauch der Zigaretten meines Vaters, das Bernsteinlicht der weichen Sommerabende – diese Welt ist nur noch in mir", schreibt er genau so schmerzlich leicht wie "Aber der Natur, dem Leben, dem All, bedeuten diese Begriffe nichts. [...] Ist es nicht möglich, dass wir uns irren? Wir wissen es nicht. Wir müssen uns also damit abfinden, dass es genauso töricht ist, zu sagen, das Leben habe einen Sinn, wie das Gegenteil."
Kaffee und Zigaretten
von Ferdinand von Schirach
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