Wir Strebermigranten - Eine deutsch-polnische Geschichte der Unsichtbarkeit

Wenn wir, die politischen Akteure und die Medien von Migranten in Deutschland sprechen oder berichten, kann es sein, dass man bereits...



Wenn wir, die politischen Akteure und die Medien von Migranten in Deutschland sprechen oder berichten, kann es sein, dass man bereits Bilder von bestimmten Menschen im Kopf hat. Manchmal vielleicht sogar deren konkrete Nationalangehörigkeit. Ebenso, wenn man von Multikulti und von Vielfalt in unserer Gesellschaft denkt. Menschen mit türkischen, italienischen oder serbischen Hintergrund zum Beispiel, oder seit 2015 vermehrt auch Syrer. Aber die Polen? Wieso wird nie von den Polen in Deutschland gesprochen, obwohl sie überall sind, damals in der Schule genauso wie im Freundeskreis und anderen Menschen, denen man täglich begegnet. Großeltern aus Schlesien und Preußen, die Nachbarin mit dem leichten Akzent, der Bekannte mit dem polnischen Nachnamen. Heute leben etwa 3,2 Millionen Menschen mit Aussiedlerstatus in Deutschland. Darunter rund zwei Millionen Menschen, die aus Polen zugewandert sind oder deren Familien aus Polen stammen. Nur: Das weiß keiner. "Wenn man Deutschen von diesen Zahlen erzählt, stutzen sie. Dann überlegen sie einen Moment, bis es aus ihnen herausplatzt: Mensch, stimmt! Mein Arbeitskollege ist, glaube ich, Pole, aber ich habe ihn nie als Polen wahrgenommen. Meine Bekannte aus dem Lesezirkel. Eine alte Freunden aus der Schule. Alle Polen." Nach der Türkei sind sie damit die zweitgrößte Migrationsgruppe in Deutschland. Wie konnte uns das nicht aufgefallen sein?
Über eines unserer größten angrenzenden Nachbarländer sprechen wir kaum. Viel über das schicke und mächtige Frankreich, aber in Richtung Osten schaut man selten. Das Polnische bleibt ein kleines Mysterium.

Neuer Name, neuer Geburtsort- Familiengeschichte ohne Vergangenheit


Die Autorin und Journalistin Emilka Smiechowska ist in Polen geboren, wo sie ihre ersten fünf Jahre ihre Lebens verbrachte. 1988 wandert die Familie nach Deutschland aus, um aus dem Sozialismus zu entkommen, raus aus dem grauen Polen, los nach Westberlin. Und Emilka bekommt plötzlich einen neuen Namen. Emilia Smechowski heißt sie seit dem.


"Der Schriftsteller Milan Kundera hat einmal Ostmitteleuropa als "entführten Westen" bezeichnet. Genauso fühlte mein Vater sich auch: gefangen. Als würde er eigentlich woanders hingehören, als sei Polen gar nicht sein Land."


"Flüchtlinge und Einwanderer warten oft jahrzehntelang auf die Papiere, die bestätigen, was längst ihre Wirklichkeit geworden ist: Sie sind Deutsche. Sie wissen, wie man in Deutschland lebt. Bei mir war es andersherum.Ich wurde Deutsche, bevor ich wusste, dass man sich in Deutschland Schokolade aufs Brot schmieren kann. Bevor ich wusste, dass die deutschen Lebensmittelläden Aldi heißen. Und dass man in der Kirche eine Hostie in die Hand statt in den Mund gelegt bekommt."


Ihre erste Zeit im neuen Land verbringt die Familie im Asylbewerberheim. Und mit dem neuen deutschen Namen, einem neuen Geburtsort im Pass und einer neuen Sprache kam auch noch viel mehr dazu: Viele Dinge in den Kaufhäusern, die in Polen komplett unbekannt waren - die Möglichkeit von Konsum. Und immerzu eines: Es weit schaffen, noch weiter schaffen wollen, dazu gehören und positiv durch Fleiß auffallen und nicht durch komischen Nachnamen und den Akzent in der Stimme. Das Gefühl des Andersseins und der Minderwertigkeit so schnell es wie nur möglich umwandeln in Anpassung und dem Willen zum Erfolg und dem guten Leben.

Polen in Deutschland waren lange unsichtbar und sind es ein Stück weit noch heute. Sie sind in der Regel weiß, katholisch und fallen nichts sonderlich auf im Geflecht unseres Miteinanders. Im Rahmen der Aussiedlerbewegung hatten viele Eltern ihren Kinder verboten, in der Öffentlichkeit polnisch zu sprechen. Auch Emilia und ihre Familie waren jetzt Deutsche, ganz plötzlich und alles Polnische war jetzt unerwünscht. Wenn die neuen Kollegen der Eltern zum Essen kamen, gab es nicht etwa Piroggen, sondern Mozzarella und Tomate. Und als Emilia ein Deutschdiktat mit zwei Fehlern nach Hause brachte, war ihre Mutter entsetzt: Was war schiefgelaufen? Ergreifend erzählt Emilia Smechowski die persönliche Geschichte einer kollektiven Erfahrung: eine Geschichte von Scham und verbissenem Aufstiegswillen, von Befreiung und Selbstbehauptung.

Ist es das, was eine perfekte Integration ausmacht? Sich so sehr in die deutsche Gesellschaft einfügen, dass man sich nicht unterscheidet, nicht auffällt und einen Stück seiner Identität auch in der Vergangenheit lässt. Komplette Anpassung und stumme Einordung? Ist der gute Ausländer der, der unsichtbar ist? Darf er nur dann in einer Weise auffallen, wenn es durch außerordentliche Leistung der Fall ist?

Die Unsichtbarkeit


Viele Menschen, die einen polnischen Hintergrund in ihrer Familie haben, identifizieren sich nicht als polnisch, sondern als deutsch. Darunter sehr lange auch: Ich selbst. Während mein Vater sehr locker und gleichgültig von sich sagt, er komme aus Polen, sieht das der Rest der Familie anders. Schlesisch seien sie, also quasi deutsch, sagt der Rest und nehmen es fast als Beleidigung, würden wie mit Polen in Verbindung gebracht werden. Und so wusste ich zwar immer, dass mein Vater und seine Familie in Schlesien geboren und nach Deutschland gekommen sind, ihre erste Sprache polnisch war und mein der Nachname, den ich heute trage, ursprünglich ein anderer war, aber als etwas, das konkret etwas mit mir zu tun haben könnte, habe ich es nicht betrachtet.
Ein Grund dafür ist mit Sicherheit auch mein Aussehen. Wenn ich von anderen darauf – mal interessiert neugierig, mal auch eher harsch – wo ich denn herkomme, dann war das immer bezogen auf das mütterlich Philippinische, das ich an mir hatte. Das dunkle, glatte Haar, die mandelförmige Augenform, den leicht olivefarbenen Unterton meiner Haut. Wenn schon nicht-deutsch, dass philippinisch, dachte ich, weil es das war, was andere in mir sahen. Dass darunter vielleicht noch ein Ursprung einer ganz anderen Nation liegt, ging unter. Bestimmt auch deswegen, weil es in der gesamten Familie nie gelebt, die Geschichten der Spätaussiedlung nie erzählt wurden.

Dieses Werk, zwischen Essay und Familienbiographie, erzählt mir eine Geschichte, die ich schon viel früher hätte hören sollen. Eine Geschichte von Gefühlen von Scham und Minderwertigkeit, von Ausgrenzung, Druck und Ehrgeiz. Die Verantwortung sucht Smechowski dabei sowohl in der Gesellschaft, aber auch konkret bei den Immigranten selbst, am Beispiel ihrer Familie. Sie fragt ihre Eltern, wieso sie Angst hatten, wieso sie weg wollten, wieso sie das Polnische vermieden und bekommt Antworten darauf.

"Wir hatten uns hochgekämpft. Meine Mutter war in einem polnischen Dorf aufgewachsen, die Erste in ihrer Familie, die Abitur machte, mein Vater hatte sein halbes Leben lang nur ein gehabt: abhauen in den Westen. Sie schafften es. Und zusammen stiegen wir auf in diesem neuen Land. Meine Eltern arbeiteten als Ärzte, wie bauten ein Haus, mit Garten. [...] Wir Kinder lernten Latein und Altgriechisch, Klavier und Ballett. Eine Assimilation im Zeitraffer. Wir sind die Wirklichkeit gewordene Phantasie eines rechtskonservativen Politikers, dem zufolge Einwanderer sich der neuen Gesellschaft anpassen müssen, die ihrerseits aber bleibt wie zuvor.
Und wir sind nicht die Einzigen. Es gibt kein Volk, das zahlreicher nach Deutschland einwandert, als wir Polen es tun. Seit Jahrzehnten schon. Nur: Als Migranten sieht man uns kaum. Jedenfalls diejenigen nicht, die in den achtziger und neunziger Jahren kamen – und das sind mit Abstand die meisten. Wir sind unsichtbar. Wir sind quasi gar nicht mehr da, so gut gliedern wir uns ein. Wie Chamäleons haben wir gelernt, uns in der deutschen Gesellschaft zu verstecken."


Wir Strebermigranten
Emilia Smechowski
Hanser Berlin Verlag 






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