Kapitel: Sehnsucht und Raum

"Ich hab dich so gern, ich könnte weinen", sagst du mir. Wir lachen vor lauter Müdigkeit. Machen schlechte Witze und schlafen i...


"Ich hab dich so gern, ich könnte weinen", sagst du mir. Wir lachen vor lauter Müdigkeit. Machen schlechte Witze und schlafen irgendwann zwischen den Bonbonpapieren auf unseren Kissen ein. Als ich aufwache, schmeckt mein Mund noch nach Zucker.

Drei Jahre sind vergangen von dem Tag, an dem ich meine Stabilität verlor. Von der Zeit, die uns allen dermaßen ins Fleisch schnitt, dass ich fast sicher bin, man würde Narben finden, wenn man über mein Herz, meinen Kopf, meine Hände streicht. Drei Jahre und ich weine noch immer bei jeder Zeile, die ich über die Zeit schreibe, in der 2016 der Frühling in den Sommer übergegangen ist, was ich in dieser Zeit alles gesehen, gehört, gespürt und ausgehalten habe, von dem ich niemanden erzähle. Drei  Jahre von dem Moment an, dass meine beste Freundin mich zum Arzt fährt, ich nicht atmen kann vor lauter Überforderung. Zwei und ein halbes Jahr nachdem ich merkte, dass etwas eindeutig nicht stimmt. Dass ich nicht raus kann aus meiner Haut, aus diesem Leben, aus diesem verfickten Trauerspiel, das es plötzlich geworden ist. Jahre sind vergangen, dass ich Krankenwagensirenen höre und mir absolut sicher bin, dass jemand aus meinem Leben gerade gestorben ist. Dass alle umfallen wie Schachfiguren und nur ich übrig bleiben werde. Jahre ist es her, dass ich Entzugserscheinungen habe und erst mittags einschlafe.

Kontrolle. Wahrscheinlich auch der Grund, warum ich die Stabilität von Beziehungen schätze. Der Grund, warum ich Ordnung mag, mein Regal sortiere, Struktur mag. Warum ich wissbegierig bin und das Verstehen von Dingen schätze. Der Moment, in dem das Chaos der Welt plötzlich sinnhaft geordnet ist und mich beruhigt: Der mir das Gefühl gibt, zurecht hier zu sein, zu verstehen, zu fühlen und leben zu können, ohne bloß als ein atomisierter Partikel an Sinnlosigkeit im Kosmos zu existieren, der ohnehin bald nicht mehr da ist.


Mein Leben hatte aufgehört zu existieren, wie es mal war und ist zu einem anderen geworden. Roger Willemsen beschreibt in seinem Buch "Der Knacks" genau diese Art des Bruches. Ein Geschehnis im Leben eines Menschen, das ihn so verändert, so sehr involviert und inhaftiert, dass er von dem Moment an sein Leben in ein "davor" und ein "danach" einordnet. Eine Zäsur macht. - Zwei Jahre später. 2018. Ich merke nicht, dass ich mich seit Monaten nicht an meinen Schreibtisch setze. Ich kann dort nicht schreiben. Zwei Jahre später und ich merke nicht, dass ich mich abends auf meine Couch oder in das Gästebett lege. In meinem eigenen Bett kann ich nicht mehr schlafen. Allein unter familiären Daunendecken sitzen und weinen, weil einem klar wird, was anders ist als zuvor. Anders als in Wuppertal, anders als vor dem Bruch, den es in meinem Leben gab. Anders, wie ich die Welt und das Leben sehe und anders, wer ich bin.

Du küsst meinen Kopf. Ich sehe mir das Weltkulturerbe und sehr viel Kunst an, esse gute Pasta, schwimme im offenen Meer, liebe diese Zeit. Und dich.

Das Leben war zerbrechlich geworden. Es dauerte bis ich mich wieder zusammengesetzt und gefunden habe. Habe mich verarztet, mir die Schulter und die Wange gestreichelt und mir selbst versichert, dass alles gut wird, dass ich doch gar keine Angst haben brauche.  Und jetzt. Jetzt ist dieses Ich wieder da. Es ist aufgesammelt, zusammengesetzt, wieder stabiler, kann endlich die Augen wieder öffnen. Meine Augen. Sie haben sich verändert und ich mich nun mal auch. Und das, was sie sehen in meinem Leben um mich herum, das passt nicht mehr. Ich schaue mich um und meine Finger kratzen an den Terracotta Wänden. Wie all die Pflanzen, mit denen ich meine Fensterbänke gefüllt und belebt habe, bin auch ich zu groß geworden für diesen Topf, in dem ich mich aufgezogen habe. Fühlen ist nicht mehr nur noch negativ. Ich ziehe die Watte von meiner Haut. Ich bin wieder gut, drohe längst nicht mehr auseinander zu fallen. Ich sehe, was um mich herum gewachsen ist. Das Leben, das ich so sehr benötigte, ist eines geworden, das in schöner Blüte um mich herum wuchert, aber nicht mehr all das beinhaltet, was ich brauche.

"Ich bringe dir was mit", sagst du. Ich freue mich.

Ohne, dass ich es je gemerkt habe, sich ein Schalter umgelegt haben könnte, eine Seite umgeschlagen oder eine Tür geöffnet wurde, habe ich begonnen dieses Leben zu leben. An mir. Um mich herum. Ich bin längst nicht mehr so klein und jung, dass ich auf die Zukunft schaue und hoffe, irgendwann glücklich zu sein. Ich will jetzt glücklich sein und fordere es ein. Vor einigen Jahren hatte ich die Pause Taste gedrückt, beobachtet und einsortiert, mich nicht mehr hineingeworfen. In Neues, in Falsches, in etwas, das mich auf eine alte neue Art besonders fühlen lässt. Blicke ich auf mein Ich zurück, sehe ich Schauder und Unsicherheit und Furcht. Wenn das noch da ist, dann versteckt es sich nun in den Rissen eines Fundaments, das ich mir gebaut und erschaffen habe, das mich hält und wiegt zugleich.
Ich will wieder mehr. Wieder überhaupt etwas. Ich will rosaroten Himmel und auf dem Dach sitzen, ohne Höhenangst zu haben. Ich will den Kitsch, will laute Töne in meinem Kopf, die ich nicht greifen kann, weil sie innerhalb von Millisekunden wieder verschwinden. Ich will Sicherheit, will nicht das Gefühl haben, falsch zu sein, ängstlich sein zu müssen, weil sich alles um mich herum stetig verändert. Will die ganze Stadt sehen. Will ein Leben mit Austausch und Raum für mich selbst. Ein Leben, in dem ich Dinge erschaffe. In dem ich selbst ein Fokus bin, nicht nur ein ausführender Charakter, um eine Szenerie, einen Alltag, ein Funktionieren zu gewährleisten. Ich fühle so viel und so wenig und weiß nicht, was ich damit machen soll. Ich brauche Platz und neue Verbindungen und neue Wertschätzung für Dinge, die mich bewegt haben. Ich brauche Menschen, die mich herausfordern.

"Aber klar doch hab ich Lust auf einen Kaffee. Schreib mir morgen nochmal und wir machen was fest! xx"

The world is little, people are little, human life is little
There is only one big thing — desire.
Willa Cather


"Ich hab für dich gerade ein vermutlich echt gutes Sexdate abgesagt!", lachst du mir entgegen.
"Oh vielen Dank, das weiß ich zu schätzen!", sage ich.

"I can never read all the books I want; I can never be all the people I want and live all the lives I want. I can never train myself in all the skills I want. I want to live and feel all the shades, tones and variations of mental and physical experience possible in life. And I am horribly limited", schreibt Sylvia Plath. Im Moment will ich genau das. Will all das lesen, was in meinem Regal steht und all das, was mir zwischen die Finger gerät. Will jeden Menschen so sehr kennen lernen, dass wir uns von all dem erzählen, was uns das meiste bedeutet. Will gemeinsam mit Menschen Konzepte entwickeln und lachen und weinen und tanzen und verschwinden.

Und ich weiß, dass das nicht geht. Nicht aktuell, nicht hier, nicht so, vielleicht sogar vor allem nicht für mich. "Willkommen in der Realität, Janet. Ich habe nur gehofft, dass du diese Erfahrungen erst später in deinem Leben machen wirst", sagst du mir am Esstisch und siehst mich traurig an.

Ich habe Angst davor, dass zwei Liebende sich ansehen und nicht das sehen, was dort vor ihnen ist. Aber ich rieche Orangenblüten im Hochsommer Italiens und weiß, dass das nie vorbei gehen wird, was wir hatten, haben.
Ich hasse den wackelnden Ton in deiner Stimme am Telefon, weil ich Angst habe, dass du zu verbergen versuchst, wie schlecht es dir geht. Aber ich laufe durch das dunkelgrüne Moos und entdecke mit dir den Wald und weiß, ich darf mich nicht verantwortlich fühlen. Nicht für alles. Nicht schon wieder.
Ich erwarte nichts mehr von dir, nicht einmal eine Entschuldigung. Aber ich lache mit dir bis es morgens ist und hoffe, dass du bald selbst erkennst, was es ist, das dir fehlt und dass Weglaufen das Problem bloß verlagert.
Ich habe noch immer ein zögerliches, ein erwartendes, ein sich wappnendes Gefühl, wenn ich an meine Zukunft denke, aber bin plötzlich sicher. Der Wahnsinn der Welt kann mich nicht zerstören. Ich bin ein Level weiter, verstehe, dass ich vielleicht gar nicht die ganze Welt begreifen, nicht festhalten, nicht abwehren muss. Manche Dinge müssen geschehen und manche erschaffen erst dann etwas Großartiges, nachdem sie alles zerstört und alles zum Einstürzen gebracht haben. Urknall.

Urvertrauen. Tragen und Ertragen. Hoffen. Die gute und schlechte Nachricht: Alles geht vorbei. Und danach geht es weiter. Ich habe Angst. Aber noch mehr Zuversicht. Hinter meiner zartzögernden Haselnussschale an Unsicherheit und Distanz bin ich sicher: Alles wird gut. Egal, was mir passieren mag, was ich erleben mag; Ich schaffe das. Kann mehr, als ich mir vorstellen kann.  Nicht, weil ich Garantien habe, dass alles so bleibt, wie es ist, sondern weil ich überstehen kann. Ganz vieles will ich nicht erleben. Aber: Es. Geht. Weiter.

Ich laufe wieder. Ich bin nicht in Form. Ich renne und konzentriere mich auf meine Atmung. Und auf die nächste Laterne, die leuchtet, weil es schon dunkel wird. Nur noch bis dort hin muss ich es schaffen, sage ich mir, und weiß, dass ich mich damit austrickse. Natürlich werde ich mir danach sagen, dass ich noch eine weitere schaffen muss. Und die danach auch noch. Und dann noch zur nächsten. Schweiß und Stolz. Kopfimmanenz. Atmen. In sich selbst ankommen. Wissen, was man liebt, was man schätzt und am liebsten tut, in welche Richtung man blickt und sich selbst kennen. Da bin ich und merke, ich bin alleine hier. 

Die Frau mit blondem Haar, dem müden Gesicht und der überdurchschnittlich freundlichen Stimme wirft mir zwei Stück Zucker in den Kaffee, lächelt mich an, nimmt mein Geld entgegen, das ich ihr in die Hand lege. Ich habe die Nacht durchgemacht. Ich konnte nicht schlafen. Wach liegen, an die Decke oder das Innere der Augenlider starren. Nicht anders können, als doch wieder auf das Handy zu sehen, um sich noch schlechter zu fühlen, weil man nun weiß, wie viele Stunden man nur noch schlafen kann. Ich stehe auf. Ich setze mich an den Laptop. Ehe mein Kopf tatsächlich geplatzt ist, wie ich es prophezeit hätte, wird es plötzlich wieder Tag. Der schwarze Himmel blau und rosa. Ich setze mich mit Decke an das Fenster und beobachte das, was ich mag: Den Beginn von etwas Großem. Ich starre hinaus und erinnere mich nicht mehr, wieso ich mich schlecht gefühlt habe. Ich ziehe mich an und laufe hinaus, um mir einen 6Uhr Kaffee zu kaufen.

Mich hat er viel gekostet. Dieser Umschwung. Zeit, Anstrengung, Überwindung, müde Augen, taube Zungen, einige Taschentücher voll gesogen mit Geständnissen und Ausbrüchen von Zweifel und Intimität. In meinen Händen sehen die geknüllten und nassen Taschentuchkugeln dann aus wie überdimensionales Popcorn. Ich will nicht mehr nachhause, weil ich mein eigenes Zuhause sein will. Ich fühle so viel, ich denke so viel, doch die meiste Zeit schweige ich. Eine Angewohnheit, eine Vorsicht, ein Sichergehen. Lebenslust ist auch Wut. Bei mir jedenfalls. Das Erkennen, dass man nicht alles haben kann. Nicht ohne Mühe, nicht ohne Grenzen, nicht ohne Verluste und Arbeit. Und es trotzdem so. sehr. will.

"Entweder ihr werdet daran sehr wachsen oder das ist der Anfang vom Ende." Wir essen Crêpes und reden über Probleme. Vielleicht stimmt das.

Ich will nicht auf Zeichen warten. Im Moment hasse ich die Idee von Schicksal. Nach 'Gott' die nächstbeste Möglichkeit sein Leben von oben herab determiniert zu sehen. Ich bin es nicht gewohnt, ohne Plan zu sein. Das Ausgesprochene hängt in der Luft zwischen unseren Mündern und Ohren, die es nicht wagen, sich zu bewegen. Das Nichtwissen um und Nichtsehen von Zukunft.
Wann lässt man etwas los, obwohl man es noch will? Wann fängt man etwas Neues an, obwohl man noch Zweifel hat? Gar nicht? Sofort? Nach reiflicher Überlegung oder nach etwas wie einem impulsiven Gefühl? Und wonach soll man eigentlich suchen?

Sehnsucht. 
Ein schönes Wort. Ein bittersüßes Gefühl voller richtungsweisendem Tatendrang. Mehr als Vermissen, mehr als ein Ich-würde-gern. Ein Müssen abseits der Vernunft.

Dinge, die ich sonst nie getan hätte, mache ich jetzt. Ich teste mich aus. Ich schaffe mir Raum. Ich fordere ein. Ich spreche an, höre zu. Ich erfühle zur Kontrolle - alte Gewohnheit.
Berlin ist ein Universum, in dem alles anders funktioniert. Ich frage mich, ob den Menschen in Berlin eigentlich klar ist, wie viel Wohnfläche sie für den gleichen Mietpreis in anderen Städten bekommen würden. Über das Phänomen dieser unkonventionellen und verdrogten Stadt nachdenken, eine, die mitsamt seiner Menschen anders und fremd ist, aber einen regelmäßig auch sehr positiv überrascht. Netzwerken kann ich nicht gut, also trinke ich so viel Kaffee, dass ich Herzrasen bekomme. So viele Gespräche. So viel "anders". Ich liebe die Freiheit in der Zeit, die Gelassenheit, das In-den-Tag-hinein-leben.Ich liebe den Schluck Wein am Mittag, das Schweigen auf Brücken, die Geschichten, die man mir erzählt und den Tag danach. Schwerwiegende Leichtigkeit am Bahnhof und auf dem Weg zurück.

Manchmal höre ich, dass du mich vermisst. Manchmal frage ich mich, ob ich das auch tue. Dich vermissen, meine ich. Und manchmal überlege ich, wen ich mit "dich" überhaupt meine.

Ich befürchte manchmal, die meisten Geschichten, die ich erzähle, handeln von Menschen und Zeiten, die nicht mehr in meinem Leben sind. Weil mein Herz, mein Kopf, ja sogar meine Lunge gefüllt sind von Erinnerungen, an denen ich festhalte. Jeder Satz, jede Beziehung, jede Berührung, jedes Geräusch. Wenigstens die Erinnerungen sollen nicht gehen. Manchmal zerreißt mich das Gefühl, dass alles vorbei ist, was ich einst gelebt, geliebt, gespürt und genossen habe. Und dann, dann wache ich drei Wochen später auf und atme. Stehe auf dem Balkon und lasse mich davon einnehmen, dass das alles vor mir liegt. Nichts wird je wieder Vergangenheit erwecken können und alles ist Zukunft. Alles ist der Anfang und wenn ich eines liebe, dann sind es Anfänge. Alles ist Morgentau, der Duft von Sonnencreme und heiß aufgebrühter Kaffee, frisch gedruckte Reisetickets, neue Ideen, spontane Sprachnachrichten und neue Küsse an kalten Abenden und das, was ich bin und werde, durch genau das, was mal war. Und atme. Atme.



You Might Also Like

1 x

COPYRIGHT


Soweit nicht anders angegeben, unterliegen alle Texte und Fotos dem Urheberrecht.
Eine Vervielfältigung oder Verwendung dieser und deren Veröffentlichung ist nur nach vorheriger Genehmigung gestattet.

© 2021, sansmotsblog@web.de

DISCLAIMER