BOOKS | Julian Barnes: Die einzige Geschichte

Die einzige Geschichte von Julian Barnes Kiepenheuer & Witsch „Jeder Mensch hat seine Liebesgeschichte. Jeder. Vielleic...


Die einzige Geschichte
von Julian Barnes
Kiepenheuer & Witsch

„Jeder Mensch hat seine Liebesgeschichte. Jeder. Vielleicht war sie eine Katastrophe, vielleicht ist sie im Sande verlaufen, vielleicht ist sie gar nicht richtig in Gang gekommen, vielleicht gab es sie nur in Gedanken, das macht sie nicht weniger real. Manchmal macht es sie noch realer. Manchmal sieht man ein Paar, das sich miteinander zu Tode zu langweilen scheint, und man kann sich nicht vorstellen, dass sie irgendwas gemeinsam haben oder warum sie immer noch zusammenleben. Aber das ist nicht nur Gewohnheit oder Bequemlichkeit oder Konvention oder dergleichen. Es liegt daran, dass sie einmal ihre Liebesgeschichte hatten. Jeder Mensch hat eine. Es ist die einzige Geschichte.“

Als ich beschloss, mir dieses Buch zu kaufen, erwartete ich zwei Dinge: Einen großartigen Roman und eine sentimentale Erzählung einer Liebe, auf die man voller Wehmut und nostalgischer Sehnsucht zurück blickt. Ich bekam nur eines davon, denn natürlich hält Julian Barnes sein nie gegebenes Versprechen, ein großartiger Autor zu sein, aber nicht im geringsten ist das die simple romantische und sentimentale Geschichte, die ich erwartet hatte. Ich dachte, ich lege mir mit diesem Buch eine Ode an das Verliebtsein und das Hochhalten der einen großen Liebe auf meinen Nachttisch, hatte jedoch nicht erwartet, dass sich all das kaum unmerklich in der Bestätigung auch zerschmettert und ein Roman der tragischen Zerstörung, des Selbstmitleids und des Narzissmus ist.

„Würden Sie lieber mehr lieben und dafür mehr leiden,
oder weniger lieben und weniger leiden?
Das ist, glaube ich, die einzige wahre Frage.“

19 Jahre alt zu sein einmalig. Es ist jung. Verrückt jung. Ein Alter, in dem man auf all das keinen Wert legt, was einem in den Konventionen der Mittelschicht der 60er-Jahre vorgeschrieben wird. Paul ist 19 Jahre alt, als er das erste Mal der Liebe begegnet. In den Tennisclub, zu dem ihm seine Mutter in der Hoffnung überredet, er würde dort vielleicht eine nette Christine oder Virginia kennen lernen, tritt Paul aus rein satirischen Zwecken ein. Er langweilt sich beim Spiel, täuscht Interesse vor, bis er tatsächlich jemanden kennen lernt, der sein Interesse weckt: Susan Macleod - 30 Jahre älter, eine verheiratete Frau aus der Gemeinde, zwei erwachsene Kinder. Und trotz allem sind sich die beiden sicher, ineinander die große Liebe gefunden zu haben. „Wir sind alle auf der Suche nach einem sicheren Ort. Und wenn man den nicht findet, muss man lernen, sich die Zeit zu vertreiben“, erklärt Susan Paul irgendwann im Auto sitzend. Paul ist stolz darauf, der Gesellschaft auch durch diese Beziehung seine Ablehnung darzulegen, und ebenso sicher, dass diese Beziehung zu führen aufgrund der intensiven Gefühle, die sie füreinander empfinden, das einzig richtige und notwendige für die beiden zu sein scheint.
Nach „Lärm der Zeit“ und „Vom Ende einer Geschichte“ stellt der Man-Booker-Prize-Träger Julian Barnes in seinem neuen Roman die Frage um die Qualität, die Schwierigkeiten und auch um die lebenslangen Konsequenzen großer Liebesgeschichten ganz unvermittelt. Die Erzählung beginnt dermaßen offen, als wäre man schon seit Jahren mit dem Protagonisten Paul befreundet. Als säße man mit ihm an einem Sommerabend auf der Terrasse, gieße sich gegenseitig Eistee ein und lausche Paul, der ehrlich von dem erzählt, was passierte, als er sich verliebte und von der Wucht des Lebens, die zuschlägt und viel echter ist, als man es gern hätte und irgendwie auch leiser.

Wie kann uns eine Liebe in unserem weiteren Leben für immer prägen? Wie kann sie einen verletzen? Und wie gehen wir damit um? Wie leben wir mit Erinnerungen, die wir als so kostbar und bedeutungsvoll empfinden, dass es weh tut, dass sie nur noch in unserem Verstand existieren? Wie leben wir mit dem introspektiven Rückblick, was mit uns, mit anderen, passiert ist, mit dem Blick auf Verfall und Dinge, die man nicht vergessen kann und vielleicht früher hätte bemerken und bedenken müssen?

Barnes ist ein Stilist. Mit dem Reifen des Protagonisten und dem Fortschreiten des gemeinsamen Lebens wechselt nicht nur die Erzählpespektive, sondern dehnt sich aus. Währen der erste Teil der Buches in frischer Abgeklärtheit eines jungen Mannes, der alles zu wissen glaubt, in Ich-Person erzählt wird, wechselt der zweite Teil in die zweite Person. Ein Beobachten. Ein Ansprechen der eigenen Person, ein Verstehenwollen, ein Eingstehen vielleicht. Nie fühlt sich Verliebtsein und auch Liebe so intensiv an wie am Anfang, das gilt sowohl für die erste Phase in einer Beziehung, aber wohl auch mit fortschreitendem Alter. Haben wir verlernt, was es heißt, innig und ohne Angst vor dem Fall zu lieben? Oder haben wir erst mit der Zeit erkannt, was Liebe bedeutet? Im dritten Teil begleiten wir die Erzählung aus der dritten Person. So weit entfernt vom Anfang, so viel klüger als zuvor, doch mit so viel mehr Distanz, sprachlich wie auch emotional.

Paul ist jung. Verrückt jung. Vielleicht jung genug, um an die große Liebe zu glauben, sie und ihre Anforderungen aber noch nicht im geringsten zu begreifen. Nicht zu verstehen, in welchem gesellschaftlichen Geflecht jeder auch dann existieren muss, wenn er es unsinnig findet. Nicht zu verstehen, was Abhängigkeit bedeutet, wie sich Dynamiken verändern und was von Liebe übrig bleiben kann, wenn sie doch so intensiv gelebt wird und was all das mit Wahrheit zu tun hat. Für mich, so viel steht fest, ist dieser Roman nämlich auch einer der sich mit diesem Thema auseinandersetzt: Wahrheit. Wie echt ist etwas? Wann muss man ehrlich sein? Wann sehen wir weg? Wen schützen wir? Wann ist Liebe Liebe, wann ist Liebe auch etwas Anderes? Und wie gehen wir damit um, wenn wir einmal verstanden haben, was Wahrheit bedeutet. Eine Geschichte über Determinierung, über Konsequenzen, ein Erwachsenwerden. Die einzige Geschichte.

„Und wenn ich Liebespaare sehe, vertikal ineinander verschlungen an der Straßenecke oder horizontal verschlungen auf einer Decke im Park, dann löst das in mir vor allem eine Art Beschützerinstinkt aus. Nein, nicht Mitleid: Beschützerinstinkt. Nicht, dass sie meinen Schutz wollten. Und dennoch – und das ist seltsam -, je furchtloser sie sich geben, desto stärker wird mein Impuls. Ich will sie beschützen vor dem, was die Welt ihnen wahrscheinlich antun wird, und vor dem, was sie sich wahrscheinlich gegenseitig antun werden. Aber das geht natürlich nicht. Meine Fürsorge ist nicht gefragt, und ihre Zuversichtlichkeit ist verrückt.“



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