Janet Kinnert, Justice For Future und Junge Visionäre | Wir tun nichts geringeres, als die Welt zu verändern

Während so viele Politiker noch immer die falschen Fragen stellen, haben wir schon Antworten gefunden. Wir haben Empörung. Wir haben Eng...


Während so viele Politiker noch immer die falschen Fragen stellen, haben wir schon Antworten gefunden. Wir haben Empörung. Wir haben Engagement. Wir haben Vision und mehr Expertise, als viele denken. Ihr braucht uns keine Stimme geben, denn wir haben längst eine. Das einzige was wir benötigen ist Gehör und mehr als einen Stuhl am Tisch, an dem Entscheidungen getroffen werden. Ich würde ja gerne mit weniger Pathos schreiben, aber es gelingt mir nicht. Nicht, nachdem ich auf der Z2X in Berlin hunderte Junge Visionäre unter 30 gesprochen und auf der Jungen Konferenz in Leipzig so viele junge Veränderer unter 18 kennen lernen durfte. Nicht nachdem man einmal realisiert hat, wie viele Ideen und wie viel Widerstand sich in uns allen zusammenbraut. Und wie wir nicht aufhören, obwohl wir an Grenzen und Hürden unseres Systems stoßen.

Foto: Sebastian Schimmel

Justice For Future - Gerechtigkeit, Moral & Verantwortung

Veronique Nivelle vom Theater der Jungen Welt Leipzig hat in Kooperation mit KOST – Kooperation Schule und Theater in Sachsen die Junge Konferenz "Wi(e)derSprechen!" zu Politik & Engagement auf die Beine gestellt, mitfinanziert durch Steuermittel auf Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.
Über hundert Schülerinnen und Schüler zwischen 13 und 18 sind aus ganz Sachsen angereist. Wir WorkshopleiterInnen fallen unter ihnen überhaupt nicht auf. Ich durfte über Gerechtigkeit sprechen. Wieso leben wir dann in einer Welt, in der es dennoch so viel Ungerechtigkeit gibt? Vielleicht ja, weil "Gerechtigkeit" ein politischer Kampfbegriff ist, den wir alle kennen und von dem wir alle wissen, das er irgendwie wünschenswert ist, aber sehr viel besser als Gerechtigkeiten kennen wir das Gefühl von Ungerechtigkeit. Wir nehmen sie ganz intuitiv (und bereits schon als Kleinkinder!) wahr: Das Gefühl, dass irgendwas nicht stimmt, dass das falsch läuft. Die Geburt von Ethik und politischen Hinterfragens.

Das Leben ist kein Ponyhof, kein Wunschkonzert, das Leben ist nicht fair, das wissen wir. Entweder, weil wir es beobachten oder selbst erleben. Es wird immer einige Dinge auf der Welt geben, die nicht nach unseren Vorstellungen sind und funktionieren. Es gibt aber Zustände und Geschehnisse, die sehr wohl in unserer Macht liegen. Probleme und Ungerechtigkeiten, die nicht nur Menschen betreffen, sondern auch durch sie hervorgebracht wurden. 
Wir spüren Ungerechtigkeit intensiver als Gerechtigkeit, weil wir in einer eigenen Betroffenheit Handlungsbedarf empfinden und ein Kratzen da, wo Respekt und Gleichwertigkeit Platz finden müssten. Und wir spüren sie weniger, wenn sie lediglich andere Menschen betrifft. Sehr selten setzt man sich in seinem Alltag zusammen und überlegt: Was ist gerecht, was ist Gerechtigkeit? Wir machen das. Ist Gerechtigkeit mit Fairness gleichzusetzen? Was ist das Verhältnis von Gleichheit und Gerechtigkeit? Welche Faktoren halten wir für wichtig, um von Gerechtigkeit sprechen zu können?Wir sitzen in einem schwarzen Raum und machen das, was Philosophie und Ethik abseits von dicken Büchern ist: Phantasieren, intuitiv nachfühlen, diskutieren, argumentieren, vielerlei moralische Gedankenexperimente und: Empören, Schockiertsein, Veränderung fordern: Justice For Future.

  • Sogar in einem verhältnismäßig abgesicherten Land wie Deutschland leben wohlhabende Menschen rund 10 Jahre länger als diejenigen, die in Armut leben.
  • In Deutschland gibt es einen geschlechtsspezifischen Einkommensunterschied von 21%, betrachtet man diesen Gender Pay Gap abseits von Geschlechtersegregation am Arbeitsmarkt bleiben es noch immer 7%: Eine Frau mit gleicher Qualifikation verdient in Deutschland durchschnittlich 7% weniger als ihr männlicher Kollege, der das gleiche tut.
  • Von 100 Kindern aus Akademikerfamilien beginnen durchschnittlich 74 ein Studium. Von 100 Kindern aus Familien ohne studierte Eltern sind es dagegen nur 21, die an eine Universität gehen. Dabei wachsen 4 von 5 Kindern in einem Haushalt ohne akademische Ausbildung auf.
  • BewerberInnen mit ausländisch klingendem Akzent oder einem nicht-deutsch klingendem Nachnamen, die Interesse an einer Wohnung zeigen, werden benachteiligt. Eine Studie zeigt, dass nur 23,5% der ProbandInnen, die sich für eine Wohnung interessierten, die einen türkischen Akzent und/oder Nachnamen hatten, überhaupt einen Besichtigungstermin erhielten, während die Erfolgsquote derer, die als "deutsch" interpretiert wurden, bei 94,7% lag.
  • Die reichsten 10% der Weltbevölkerung sind verantwortlich für etwa 50% des CO²-Ausstoßes, während zu Beginn vor allem die BürgerInnen zu unter den Folgen des Klimawandels leiden müssen, die im globalen Süden, in gefährdeten Regionen leben und über weniger Schutz und Ressourcen verfügen.
und:

  • Jedes Jahr werden rund 1,3 Milliarden Tonnen Essen weggeschmissen. Gleichzeitig hungern auf der Welt 821,4 Millionen Menschen. Alle 3 Sekunden stirbt ein Mensch den Hungertod. Viele seit du angefangen hast, diesen Text hier zu lesen. Zumeist betroffen sind Kinder im Alter von unter 5 Jahren.
  • Jedes zehnte Kind auf der Welt (!) muss arbeiten und kann nicht zur Schule gehen. Die Hälfte von ihnen (73 Millionen) leidet unter ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, die gesundheitsgefährdend oder lebensbedrohlich sind. 48% der Kinderarbeiter sind unter 12 Jahre alt.

Mit Kindern z.B. über Kinderarbeit zu sprechen, bricht einem zuerst das Herz.
Und dann schlägt es schneller.

Weil man plötzlich hört, wie gut sie begründen können, welche Ungleichheiten und welche Umstände für sie von massiver Ungerechtigkeit zeugen. "Entschuldigung, wenn ich das so sage, aber das ist komplett im Arsch!", sagt einer, "das sind Kinder. Und die sind so jung, die haben doch nichts getan." In ihnen rührt sich etwas. Eine Rührung, die zu einer Bewegung wird.
"Es geht immer auch um Macht", sagt eine andere. "Das ist nicht fair. Ich hab das alles hier nicht mehr verdient als das Kind, das in eine andere Familie geboren wird" gefolgt von "Wenn wir neue Regeln schaffen müssten, dann bräuchten wir mehr Gleichberechtigung. Auf der ganzen Welt." Allesamt unter 17 Jahre alt und schon jetzt mehr verstanden als so viele, deren einziger Maßstab Konservatismus, Leistung und das eigene Wohlergehen zu sein scheint und sich dem, was Fakten sagen, verschließen.

"Check your ego, amigo!", steht auf dem Pullover einer kleinen Teilnehmerin bei der Jungen Konferenz.

"Teenage Widerstand!" ist eine Inszenierung, die mich bereits im Theatersaal zu Tränen rührt, als Ausschnitte von Malala Yousafzai, Emma González, Greta Thunberg und weiteren dermaßen jungen AktivistInnen an die Wand projiziert werden. Diese Gefühl von Rührung und davon, eindrücklich beeindruckt zu sein führt sich später fort, als ich sehe wie schön es ist, dass sich Kinder verändern: Mutiger sind, aktiv sein wollen, man die Rädchen in ihren Köpfen förmlich rattern sieht. Das ist die Zukunft. Und wir können ihnen und uns helfen, indem wir den richtigen Menschen Bühne bereit stellen.
Nach dem Workshop kommt ein Teilnehmer zu mir und will noch ein Gedankenexperiment durchsprechen. Eine Stunde später, kurz vor Schluss der Konferenz, tritt er noch mal an mich heran und sagt etwas schüchtern, dass er sich noch ein Mal bedanken will, weil ihm das viel Spaß gemacht hat und er viel gelernt hat, es sei auf jeden Fall die richtige Wahl gewesen. - Ich wusste das nicht. Dabei mag ich Kinder. Aber ich hatte nicht gewusst, was für eine dankbare und rührende Aufgabe es sein kann, mit Jugendlichen über große politische und moralphilosophische Fragen zu sprechen und auf den Grund zu gehen. Ich wusste es nicht und bin ganz hin und weg.

Z2X und Junge Visionäre - Be the change you want to see in the world

Die Z2X ist eine Konferenz organisiert von der ZEIT. Über 800 junge Visionäre aus ganz Deutschland treffen aufeinander, tauschen Ideen aus, zeigen Probleme auf,  diskutieren Möglichkeiten und bereichern einander an Perspektiven. Eine unglaublich inspirierende Stimmung und eine Atmosphäre voller Aufwind und Tatendrang: Wir sind schon längst dabei. Wir haben Ideen, wir haben begonnen uns zu organisieren, wir finden Anschluss an Bewegungen. Zum nun zweiten Mal bin ich mit Caroline Lünenschloss, stellvertretende Vorsitzende der CDU Wuppertal, dort. Wir lauschen Reden, nehmen an Skill Sessions teil, wir lernen einander kennen, wir sitzen auf der Wiese, schwitzen in der Sonne und tauschen uns aus.

Wir sind in anderen Parteien, anderen Organisationen, wir sind auf andere Art engagiert, aber haben eines gemeinsam: Wir sind politisch und sehen Handlungsbedarf. Nur um einige Beispiele zu nennen:


  • Aminata Touré von den Grünen ist mit 26 Jahren Deutschlands jüngste Vize-Landtagspräsidentin und sogar noch klüger und grandioser, als ich ohnehin schon dachte.
  • Kristina Lunz vom Centre for Feminist Foreign Policy spricht über Aufstieg, Solidarität, Eva Schulz von Deutschland3000 darüber, dass wir nicht für die Visitenkarten, sondern die Vision Führungspositionen übernehmen müssen, beide haben es auf die Forbes "30 under 30" Liste geschafft.
  • Nico Semsrott von der PARTEI gibt einen wichtigen Erfolgstipp: "Lasst euch in eine reiche Familie gebären."
  • Luisa Neubauer von Fridays For Future ist da. Elena Poeschl kämpft für bezahlbaren Wohnraum.
  • Leif Lewinski arbeitet mit "besser zuhause" daran, Pflegebedürftigen zu ermöglichen, länger und besser selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden leben zu können.
  • Orry Mittenmayer setzt sich für Betriebsräte und bessere Arbeitsbedingungen bei Lieferdiensten im Niedriglohnsektor ein.

Am nachhaltigsten beeindruckt hat mich Ali Can, der Sozialaktivist, der die Diskussion um Rassismus, Migration und zerrissene Identitäten vor einem Jahr mit #metwo aufgegriffen hat. Er zeigt eines, was so vielen anderen und auch uns manchmal fehlt: Respekt voreinander. Vor anderen Meinungen. Vor anderen Strömungen. Völlig ohne Häme und Überheblichkeit. In Essen gründete er das "VielRespektZentrum" und initiierte die "Hotline für besorgte Bürger" und nimmt damit auch das ernst: Menschen, die vielleicht Angst haben, vielleicht aber auch Wut und Hass. Denn miteinander sprechen ist immer besser als bloß übereinander.


Ihr seid die Zukunft.
Wir sind die Zukunft.
Wir alle, die es wagen, sie tatsächlich neu zu denken. 


Ab dem Moment, in dem wir hinterfragen, tun wir nichts geringeres, als die Welt zu verändern.
Mit jedem Gespräch, mit jedem Impuls, mit jedem kleinen Stück an Bewegung sind wir einige Schritte weiter in einer oder anderen Richtung.

Und wir hören nicht auf.
Wir hören nicht auf.


Fotos: ©️ KOST | Sandrino Donnhauser Fotografie & Bildgestaltung

Fotos: Phil Dera und Alexander Probst für ZEIT ONLINE

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