Romantisierte Selbstoptimierung - Should we really never stop romanticising our life?
Samstag, September 16, 2023"You think we can escape disagreeable duties by taking romantic views
– that’s your great illusion, my dear."
- Portrait of a Lady, Henry James (1881)
Vermehrt begegne ich ganzen Vlogs und Anleitungen dazu, wie der Alltag romantisiert werden kann. "Never stop romanticising your life" steht da in schöner Schrift und gibt die Stimmung der Reels und Vlogs an: Warmes Kerzenlicht, Blumensträuße, klassische Musik und bewusst langsam gesprochene Worte vermitteln ein Gefühl von Entschleunigung. Irgendwas zwischen Hygge, Produktivität und achtsamen Mindset. Gleichzeitig werden emotionale, materielle und atmosphärische Voraussetzungen kreiert, die vermeintlich notwendig sind, um das Leben zu genießen und zu entspannen.
Auf den ersten Blick mag es ein Gegenentwurf zu den sonst in sozialen Medien geteilten Highlights sein, wenn stattdessen der Alltag zu Hause in den Mittelpunkt gestellt wird. Doch dahinter verstecken sich neue Anforderungen; vor allem an bisher weitestgehend ungeteilten Aspekte des Alltags wie Ruhephasen. Auch diese werden nun thematisiert und Gemäß des Mottos Romantisierung ästhetisiert.
Auf den zweiten Blick vereint die Romantisierung bereits etablierte Konzepte wie Me-Time oder Self-Care. Statt von Me-Time oder Self-Care zu sprechen, geht es darum, dass Leben zu genießen und sich hierbei vor allem auf die kleinen Dinge zu konzentrieren und diese wieder wertzuschätzen. Trotzdem sind es die gleichen Ideen von Achtsamkeit und Entschleunigung, die im Kontext von Yoga und Meditation in den Mittelpunkt gestellt werden, um das Leben zu romantisieren.
Egal wie man es aber nennt, sind Achtsamkeitsübungen längst auch zu Selbstoptimierungshacks geworden.
Follow me around - romantischer Arbeitsalltag Edition
So beginnt bereits der romantisierte Morgen mit Journaling in der Morgendämmerung. Dann werden mit Slow Brew Methoden Tee oder Kaffee gebrüht, der genüsslich ohne Ablenkungen getrunken wird; um bloß der hektischen To-Go Kultur zu entkommen. Auf dem Weg zur Arbeit werden Wege in der Natur gegenüber der Straßenbahn bevorzugt und Bilder von Feld- und Waldwegen ersetzten den grauen Stadtalltag. Auch akustisch werden entsprechende Bilder von Vogelgezwitscher statt Straßenlärm untermauert. Die Arbeitsumgebung selbst wird anschließend ebenfalls durch Bilder ästhetisiert und romantisiert. Arbeitsplätze gleichen zunehmend gemütlichen Cafés und ahmen eine heimeligen Atmosphäre nach.
Follow me around oder sich in den Alltag verlieben, titeln die Videos, durch die ich online scrolle. Bilder aus modernen Büros oder gar Cafés, in denen gearbeitet wird, zeigen schicke Latte Art und Süßspeisen neben Laptops. Als ob durch die Kaffee-und-Kuchen-Kultur die Arbeit wortwörtlich versüßt wird. Im Hintergrund: moderne, Gemütlichkeit versprechende Sessel und Couches sowie jede Menge Pflanzen. Green and cozy. Dahinter versteckt sich eigentlich nichts anderes als die Tatsache, dass reine Freizeitaktivitäten, wie sich für Kaffee und Kuchen mit Freund:innen und Familie im eigenen Wohnzimmer zu treffen, zunehmend von der Welt der Produktivität und Arbeit durchdrungen sind.
So werden Räumlichkeiten und Orte der Ruhe, die nichts mit der Arbeit zu tun haben und eigentlich zur Entspannung von Arbeit dienen, zu neuen Orten der Produktivität.
Indem der gesamte Alltag inklusive der Arbeit dem Motto der Romantisierung, also der Achtsamkeit und Entschleunigung, unterzogen wird, verschwimmen Arbeit und die persönliche Freizeit zunehmend und das Ergebnis wird dann als Work-Life-Balance verkauft, die allerdings das Gegenteil bewirkt.
Wenn Zuhause Arbeit wird: Achtsamkeit als To Do
Zurück zu Hause hört die Romantisierung im Kontext der Freizeit natürlich nicht auf. Erneut steht die vermeintliche Entspannung im Vordergrund. Doch statt sich von gesellschaftlichen Anforderungen zu erholen, wartet selbst in der regenerativen Zeit eine Liste von Erwartungen, die es zu erfüllen gilt: von Workouts über Mediation bis hin zum Erlernen neuer Sprachen. Natürlich verpackt als Selbstfürsorge, die zum essentiellen Bestandteil freier Zeit geworden ist. So fragt Melodie Michelsberger in ihrem Buch Body Politics zurecht: "… liebst du dich überhaupt, wenn du nicht regelmäßig Sport treibst? Wir verstehen unter Unsportlichkeit so vielmehr als "kein Sport machen" es signalisiert wortwörtlich und metaphorisch Unflexibilität, Faulheit, mangelnde Selbstliebe und gar Sturheit. Heute verstecken gerade weiße Frauen diese toxischen Glaubenssätze gerne hinter dem Wort Achtsamkeit und machen statt Aerobic lieber Yoga."
Auch wenn nicht alle online vermittelten Ideale toxische Glaubenssätze sind, prägen sie doch nachhaltig die Selbstwahrnehmung und -beurteilung sowie die eigenen Ziele; auch im Hinblick auf unsere Vorstellung von Erholung und Regeneration.
Und selbst wenn nicht aktiv entsprechender Content konsumiert wird, prägen romantisierte und ästhetische Darstellungen von Alltag und Entspannung doch unbewusst, wie wir unseren Alltag und unsere Zeit zur Regeneration gestalten. Sie prägen unsere Vorstellung davon, wie regenerativer Bedürfnisse erfüllt werden.
Sind es wirklich romantisierte Leben, in denen wir versuchen sollten, jeden Moment des Tages möglichst achtsam zu erleben; natürlich erst nachdem die gemütlichen äußeren Voraussetzungen erfüllt sind? Oder brauchen wir eigentlich Pausen, in denen wir einfach nach Hause kommen und nichts tun ohne es gleich als faul zu bezeichnen statt erst unsere Wohnung entsprechend herrichten müssen, um uns dann nach Normvorstellungen vermeintlicher Entspannung zu richten?
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