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Literatur: Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt und Der Lauf der Liebe
Samstag, April 07, 2018
Ein gemütliches Bett, warmes Licht, frische Bettwäsche und viele Zeilen, die mich entführen und klüger machen, mich loslassen in eine Welt, die für einige Zeit ganz neu erscheint. Ich liege allein in meinem Bett und blättere Seiten um.
Unbequeme Sitze, eine vorbeisausende Landschaft und abgelesene Lautsprecheransagen. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Vielen Dank für Ihre Reise mit der Deutschen Bahn, einen schönen Tag und auf Wiedersehen. Ein Blick nach draußen, wo sind wir, dann zurück auf die Seitenzahl. Ein Kapitel schaffe ich noch.
"Du musst das lesen", sage ich bestimmt. Mein Gegenüber nickt, hat Krümel im Bart hängen, als er das Brötchen wieder auf den Frühstücksteller legt. "Ernsthaft", wiederhole ich und bemühe mich, noch eindringlicher zu klingen. "Es ist so gut!"
Zwei Bücher haben mich in den letzten Monaten zu genau dieser Situation wiederholt zurückkehren lassen. Zwei Romane, die auf eine zarte und kluge Weise Geschichten erzählen, die ich in meinem Kopf einschließe und für lange Zeit nicht mehr hinaus lassen möchte. Zwei Werke, die nicht in das Leben einschneiden, es in seiner Gedankenwelt aber vielleicht ein wenig beeinflussen, die ich jeder Leserin und jedem Leser ans Herz legen möchte.
Müsste ich zwei Bücher meiner letzten Wochen empfehlen, kann ich ohne große Probleme sagen, dass es "Der Lauf der Liebe" von Alain de Botton und "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt" von Peter Stamm wären, die nun auch auf der Liste meiner Lieblingsbücher gelandet sind.
Beziehungen sind schwierig. Gibt es überhaupt Menschen, die das nicht so sehen? Die nicht schon mindestens ein Mal an den Punkt gekommen sind, an dem sie nicht weiterwussten, an dem sie einfach nur wütend waren, warum sich der Freund oder Partner so verhält. Der einfach nur verletzt war. Oder der einfach erschrocken oder resigniert inne hielt und glaubte, das ergebe so doch keinen Sinn. Von "Wir sind zu unterschiedlich" zu "Ich kann das nicht" bis zu "Lass mich in Ruhe, du weißt ganz genau, was los ist." Wie sollten überhaupt zwei Menschen, zwei ganz andere Vorgeschichten und Erwartungen und Persönlichkeiten jemals zusammenfinden können und dann auch noch beisammen bleiben und glücklich werden können? Viele meiner Freunde oder Bekannten würden jetzt vielleicht die romantische Vorstellung der Liebe (ja, es gibt auch noch andere Vorstellungen der Liebe als die der Romantik!) in den Raum werfen: "Wenn es der/die Eine ist, dann ist es ganz leicht, dann geht es wie von selbst, dann spürst du es." Das halte ich für Schwachsinn. Mag sein, dass man jemanden findet, der sehr gut zu einem passt und den man unendlich liebt. Doch habe ich noch keine Beziehung erlebt, in der all das "einfach" wäre oder gar "von selbst" funktioniere. Auch in den größten und intensivsten Liebesbeziehungen gibt es Momente, an denen man sich nicht sicher ist und es anstrengend ist. Was dann?
"Der Lauf der Liebe" ist ein Roman, der die Geschichte eines Paares erzählt, zweier Menschen, die sich verlieben und beschließen, als ein Paar zusammen zu sein und später auch zu heiraten, vielleicht sogar Kinder bekommen. Mehr als ein Jahrzehnt vergeht und wir folgen den Beweggründen, den Verletzlichkeiten, den Wundern und vor allem auch all den Streitigkeiten, den Kommunikationsproblemen, den Erwartungen, Kränkungen und Vorwürfen zweier Menschen, die aufeinander und die Beziehung, die sie führen, reagieren.
Wieso sollte man sich immer wieder erneut wagen, die Liebe zu suchen oder sie zuzulassen, wenn man jemanden gefunden hat? Wie kann man das halten, was sich darin erschaffen hat? Viele Filme und Bücher über zwei Liebende hören genau da auf, wo Liebe erst anfängt. Wo sie zur Aufgabe wird, wo es brenzlig wird und wo man versucht ist, aufzugeben oder wegzulaufen. Alain de Botton beleuchtet ehrlich und einfühlsam die Beziehung von Rabih und Kirsten. Die Wahl der richtigen Ikea-Gläser für die Wohnung wird zu einer Grundsatzdiskussion. Eine Bemerkung in Gegenwart eines College Freundes zu einem Pulverfass. Man straft den anderen, indem man schweigt und nicht zugeben will, dass man sauer ist, geschweigedenn warum – das müsse er ja wohl ganz genau wissen. Ein kluger und sanfter Roman, der lebensnahe und auch deswegen lustige bis tragisch nachvollziehbare strukturellen Sequenzen aus den Missverständnissen, Unnahbarkeiten und Ausweichungen eines Paares erzählt, das sich so sehr liebt.
»die größte Qualität dieses lebensnahen,
menschenfreundlichen und unterhaltsamen Romans:
dass er Mitleid und Trost für all diejenigen bereithält,
die sich in diesem Paar wiederfinden.«
- Shirin Sojitrawalla, Wiener Zeitung
Dieses Buch für denjenigen, der lachen und staunen will und sich dem Leben und der Liebe als etwas widmet, das trotz der Magie hie und da nicht "einfach nur passiert", sondern als etwas, an dem man arbeiten muss und bestenfalls auch will. »Ein Buch, dessen Lektüre womöglich die eine oder andere Ehe retten könnte.« schriebt Jürgen von Rutenberg im ZEIT Magazin. Ein Buch, das ich jedem Menschen zu seiner Hochzeit schenken möchte oder eigentlich auch schon jetzt.
Wer einen Vorgeschmack auf den Roman, vor allem aber auch zu der ganzen Theorie des Philosophen Alain de Botton bekommen möchte, dem kann ich diese Folge der Sternstunde der Philosophie sehr empfehlen, worin er zentrale Punkte bereits anspricht.
Würde man Alain de Botton fragen, was er beruflich mache, antwortete er vermutlich in einer schlichten Zusammenfassung, er sei Schriftsteller. Der Philosoph schrieb fünfzehn Werke über emotionale Intelligenz, über Arbeit, über Proust und die Philosophie des Alltags.Nachdem er am King's College London sein Philsophie Studium beendete, begann er seine Dissertation über Französische Philosophie in Harvard und widmete sich daraufhin dem Schreiben für eine breitere Masse. Als Speaker, Dokumentarfilmer und Gründer der School of Life und als Gründe verschiedenster Organisationen und Projekte erweiterte er seinen Aufgabenbereich. Botton versucht, die Philosophie nahbarer und nutzbarer zu machen, für all jene, die sich nicht studieren. Sie aber auch angenehmer einzubetten für alle, die sich ohnehin schon für sie interessieren. Was nützt ein Wissen, wenn es nicht genutzt wird, was nützt es, wenn es eingeschlossen ist in Unverständnis?
"We have to listen properly, to interpret. Try and listen to what someone is telling you beneath the surface. Very few of us learn on the spot, if we said 'the thing about you is…', if that was said even just vaguely brutally, we would shut down, we get defensive. We shut down quickly, we don’t absorb that information. We should try and get less defensive. And while we’re in the 'giving feedback' role, we should really think carefully."
"When people seem like they are mean, they are almost never mean, they're anxious. That’s what inspires the behavior that we read as meanness, but it very frequently is not meanness. We are relatively simple creatures. We over-educate ourselves out of connection with these simple truths."
"When we are handling babies, and the baby is kicking and crying, we almost never say 'that baby is out to get me' or 'that baby has evil intentions', we go 'she’s probably tired' or 'he needs some food'. We look at pretty basic, pretty benevolent explanations. Once we reach adulthood, we always look at the intellectual level, we very rarely go 'wow this is probably someone who’s really pretty tired' or 'it’s one o’clock and they haven’t had anything to eat'. It offends our self-knowledge. It offends our sense of dignity, but it really shouldn’t. Not to accept how basic we are is it’s own kind of pretension, and we should resist it."
Alain de Botton ist ein tiefgehend empathischer, verständnisvoller und witziger Gesprächspartner und Zuhörer. Er will den Menschen verstehen, mit dem er sich beschäftigt und nicht nur eine symbolische Geschichte um ihn herum spannen. Er will Mitgefühl entwickelt und auf diese Weise logisch verständlich machen, wieso jemand fühlt, denkt, handelt, wie er es tut. Das macht de Botton zu einem guten Autor und Philosophen der Menschlichkeit.
Der neue novellenhafte Roman von Peter Stamm aus dem S. Fischer Verlag wurde lange ersehnt. Von der Literaturwelt und – ohne dass ich es zuvor wusste – auch von mir. "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt" ist eine existentialistische Erzählung über nur 160 Seiten, die ich an zwei Abenden voll in mich aufsog und traurig wurde, als es vorbei war und gleichzeitig jedem Menschen unter der Tür hervorschieben und empfehlen möchte.
»Würde Albert Camus heute leben,
würde er vielleicht Bücher schreiben wie Peter Stamm.«
Das eigene Leben noch einmal erleben. Christoph trifft sich in Stockholm mit der sehr viel jüngeren Lena bezeichnenderweise auf einem Friedhof. Sonderbar, könnte man meinen, wenn man nicht ahnen würde, dass es noch sonderbarer zu werden scheint. Lena kennt diesen Mann nicht, der vorgibt, genaures und wichtiges zu wissen, doch hört ihm zu. Er erzählt ihr, dass er vor zwanzig Jahren eine Frau geliebt habe, die ihr ähnlich, ja, die ihr gleich war. Er kennt das Leben, das sie führt, und weiß, was ihr bevorsteht.
Die Zartheit der Erzählung schwankt von Oberfläche in viel zu tiefe Fragen über die Essenz des Seins in einer Lakonie und man blättert die Seiten dennoch schnell um, weil man wissen will, wissen muss, was es mit dieser komischen Begegnung auf sich hat. Wir folgen Christoph, wie Lena es tut und gleichzeitig auch ihr. Christoph ist ein ehemaliger Schriftsteller, Lena Theaterschauspielerin. Ich weiß, wer du bist, verdeutlicht Christoph der jungen Frau, und er wisse auch, wie ihre Geschichte zuende gehen werde. Eine Warnung?
Todesmetaphern. Doppelgängermotiv. Existenzialismus.
Fiktion und Wirklichkeit. Freiheit und Unfreiheit. Ein Spielwerk der Sinnfrage.
Folgt eine biographische Erzählung der eigenen Biographie oder kann es auch umgekehrt geschehen? Was, wenn wir genau wissen, wie wir enden werden? Kann einem das Leben genommen werden, wenn es auf eine ähnliche oder gar die selbe Weise nachgelebt wird? Gibt es uns nur ein einziges Mal oder spielt sich unser Schicksal immer und immer wieder im Kreise ab? »Du begegnest dem Menschen, der du einmal gewesen bist. Er trifft andere Entscheidungen, macht andere Fehler – und doch entkommt er deinem Schicksal nicht.« Wie viel Potential, wie viel Vorbestimmung, wie viel Möglichkeit zur Flucht, wieviel Determiniertheit steckt in dem Lebensweg, den wir doch so frei beschreiten? Wie traurig ist ein Ende, das vorausgesehen wird oder eben auch nicht?
"Meine frühesten Berufswünsche hatten nichts mit Literatur zu tun. Erst wollte ich Schiffsbauer werden, später Professor, ich weiss nicht mehr – und wusste wohl auch damals nicht – welcher Wissenschaft", sagt Peter Stamm von sich selbst. Er wollte Koch werden oder Fotograf oder sogar Werber oder Kriminalist und eigentlich noch sehr viel mehr, an das er sich nicht mehr erinnern könne.
"Mein erster erhaltener Text ist ein Rezept für Habermus,
den ich im Kindergarten schrieb."
Peter Stamm, geboren 1963, studierte Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt und arbeitet er in der Schweiz. 2017 wurden ihm der ZKB-Schillerpreis, sowie der Cotta Literaturpreis verliehen, die sich nun einreihen in seine Auszeichnungen des Friedrich-Hölderlin-Preises, den Rheingau- und des Bodensee- Literaturpreis.
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