Doku des Monats: Pretend it's A City

Liest man das Feuilleton mit Kritiken über die Netflix-Doku-Serie “Pretend it’s a City” quer, fallen zwei subtile Beobachtungen auf: der Reg...


Liest man das Feuilleton mit Kritiken über die Netflix-Doku-Serie “Pretend it’s a City” quer, fallen zwei subtile Beobachtungen auf: der Regisseur muss ein Genie sein und seine geistreiche Muße auch. Zweitens, es muss sehr unterhaltsam sein.

Bevor wir uns den Details nähern, ein paar Eckdaten zur Orientierung. Regie führte Martin Scorsese, ein berühmter New Yorker Regisseur. Dieser portraitiert seine gute Freundin Fran Lebowitz und ihrer beider Stadt, New York. Fran Lebowitz, ihres Zeichens Schriftstellerin, ist heute 70 Jahre alt und hauptberuflich Humoristin und zeitgenössische Beobachterin des New Yorker Da-Seins.

In sieben Episoden sitzen die beiden am Tisch im New Yorker ‚The Players’ und Fran Lebowitz tut das, was sie am besten kann: über Menschen reden und Martin Scorsese lacht darüber, noch bevor sie ein Wort spricht. In jeder Episode gibt Fran Lebowitz ihre Lebensweisheiten zu je einem Thema zum Besten: Kunst, Sport und Gesundheit, Verkehr, Geld u.a.m.

Ein ständiges Name-Dropping von Persönlichkeiten, die man gerade noch kennt, wechselt sich ab mit einer Aneinanderreihung von Anekdoten über das Leben und Werden der Fran Lebowitz im New York des 20. Jahrhunderts.

In der ersten Folge verliert sich das Duo in Erinnerungen an eine Stadt, die so nicht mehr existiert. Es geht viel darum, wie es früher in New York war und was daraus geworden ist, vor allem aber darum, dass es Fran Lebowitz so nicht passt, denn sie weiß, wovon sie spricht.

Auch sie kam nach New York,
weil es eben New York ist
und da wo sie herkam, es nicht New York war.

Mit 19 und einem ‘beinahe’ Highschool-Abschluss bekleidet flieht sie von einer Kleinstadt in New Jersey nach New York, einmal quer über den Hudson River, mit dem Koffer voller Hoffnung und der Tasche ohne Geld. Dort fährt Lebowitz erst Taxi und schreibt dann Kolumnen, beispielsweise für Andy Warhols Zeitschrift “Interview” und für Vanity Fair.

Nichts weniger anstrebend als einen Vertrag bei einem großen Verlag, hasst Lebowitz das Schreiben, seitdem man sie dafür bezahlt. Der Durchbruch gelingt ihr 1978 mit dem Buch “Metropolitan Life”. Sie veröffentlicht nur vier Bücher, seit 1994 hat sie keines mehr geschrieben und verdient ihr Geld mit Gastauftritten in Filmen und Talkshows. Ihre Rolle? Reden und Witze machen. Gnadenlos, beides. Treiber ihrer Kritik an fast allem ist ihre Wut: 


 “Wenn ich irgendwas ändern könnte, wäre ich nicht so wütend” und “die Wut kommt daher, dass ich keine Macht habe, aber lauter Meinungen.”



Ihre Zitate sind goldwert und könnten demnächst gedruckt auf T-Shirts und Postern im bildungsbürgerlichen Milieu sehr viel Geld einbringen. Der Instagram-Kanal zur Serie hat 12k+ Follower_innen, Tendenz steigend.

Mittlerweile lebt Fran Lebowitz einen privilegierten ‚Lifestyle‘, wenn sie danach gefragt wird, lehnt sie dieses Wort ab, ganz humorvoll. Ihre Eigenheiten - kein Computer, kein Smartphone, nur maßgefertigte Kleidung - erscheinen fast als Ignoranz der Gegenwart und einer ausgeprägten Selbstgefälligkeit.
Ihr androgyner Kleidungsstil, den sie seit Jahrzehnten nicht verändert hat - weiter Blazer, Jeans und Cowboy-Boots - erscheint unverwechselbar und doch so simpel wie es sich Influencerinnen nur wünschen können: eine perfektionierte Capsule Wardrobe, die viel Zeit spart, aber sicher kein Geld. Abgerundet wird der gender fluide Style mit einem kinnlangen Bob, den sie sich mindestens ebenfalls seit den 1970ern schneide(r)n lässt. Diese Uniform ist clever, der Wiedererkennungswert hoch, vervollständigt wird sie durch ihr ständiges Rauchen.

Im Hintergrund sehen wir nostalgisch gewählte Bilder des alten New York und eine Fran, die darin missmutig umher spaziert, immer auf der Suche nach der besten Gesellschaftskritik. Scharfsinnig und pointiert bricht sie ihre Beobachtungen der New Yorker-Gesellschaft bis auf die Knochen herunter. Fragt sie ein Tourist nach dem Weg, sagt sie: “Tu so, als wäre es eine Stadt.” Pretend it’s a city.

Fast bekommt man den Eindruck, Fran Lebowitz und Martin Scorsese wollen es nochmal wissen: „Hört uns noch jemand zu?“ Sie brauchen diese Doku nicht, aber das Gefühl der Resonanz. Beide gelten als “Originale” ihrer Generation, einzigartig und unverwechselbar. Wonach viele in New York streben, haben sie schon längst erreicht: Individualität, die Ruhm brachte, der wiederum das Geld brachte.

So ist es eine Liebeserklärung geworden, die sagt: „Wenn keiner zuschaut, ich sehe dich.“ Und es ist ein Lobgesang auf das, was nie wieder kommt: Ein New York des 20. Jahrhunderts und ein Zeitzeugnis dessen, das sie mit der Porträt-Doku jetzt abgegeben haben. - Pretend it’s a lifetime.






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Viola Stursberg lebt in Leipzig und hat Europäische Politik und Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück und an der MLU Halle studiert. Im Masterstudiengang International Area Studies spezialisierte sie sich auf Globalisierungsprozesse und forschte an der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina zur Verbesserung von Kommunikation und Koordination wissenschaftsbasierter Politikberatung auf nationaler Ebene für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen in Europa. Als Sternzeichen Krebs liebt sie den Sommer, besonders mit Matcha-Limo und Äbblwoi aus der unterfränkischen Heimat. Ihre beste Freundin sagt: „sie ist rational, aber großherzig.“ Viola arbeitet für eine Kommunikationsberatung in Berlin. Auf Sans Mots schreibt sie mit Herz und Haltung über Zeitgeistfragen und globale Phänomene.



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