Ein demokratisches Missverständnis

Dieser Artikel handelt von universellen Menschenrechten und von Demokratierechten, denen ein normatives Missverständnis zu Grunde liegt. Abe...

Dieser Artikel handelt von universellen Menschenrechten und von Demokratierechten, denen ein normatives Missverständnis zu Grunde liegt. Aber von vorne.

Oh happy day(s)

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde am 10.12.2020 72 Jahre alt. An dieser Stelle können wir uns selbst beglückwünschen, ein erfundenes Ideal, an dem Mensch sich festhalten will, danach strebt und es doch nicht kann. Der Deklaration der Menschenrechte vom 10.12.1948 in Paris auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen gingen weltweit unzählige Kriege voraus. Als einschneidendes jüngstes Ereignis die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs. Dieser endete in Europa mit der Befreiung durch Alliierte im Frühjahr 1945 und hinterließ ein inneres Schlachtfeld bei Millionen Menschen über Kontinente hinweg: versehrte Körper, entwürdigte Seelen, der Freiheit beraubt.

Die Idee, die daraus entstand, war, sich auf ein Mindestmaß an international anerkannter Humanität zu einigen, um weltweit (menschen-) unwürdigen Zuständen vorzubeugen und so etwas wie Gewalt und Vernichtung an Menschen durch Menschen, zu verhindern. Sollte es doch wieder so weit kommen, sollte die Einigung darauf das Gewissen zur Moral rufen. So weit, so einfach.

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Es entstand die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte mit dreißig Artikeln. Schon in der Präambel fällt als eines der ersten Worte die Würde. Nach wie vor ist sie der Schlüssel der Anerkennung des Menschseins.
 

Für die Garantie und Umsetzung der Menschenrechte sind Nationalstaaten zuständig, um die Kontrolle der Einhaltung kümmern sich NGOs wie Amnesty International und Human Rights Watch und Vereinigungen wie die Vereinten Nationen oder international anerkannte Institutionen wie der Menschenrechtsgerichtshof in Den Haag oder der Europarat.



1948 ist lange her und die Welt heute eine andere:

Es gibt knapp 6 Milliarden mehr Menschen auf der Erde (ca. 7,79), die Digitalisierung, Klimawandel, (Bürger-)Kriege, Ressourcen-Konflikte und Migrationsbewegungen in ungekanntem Ausmaß.

Menschsein ist aber immer noch dasselbe.

Dank universeller Menschenrechte sollten die Auswirkungen der genannten Phänomene ja nur bedingt den Einzelnen betreffen, schließlich will sich die Staatengemeinschaft an die Einhaltung der Menschenrechte halten, besonders die Demokratien - egal, ob kulturelle, ökonomische oder ökologische Probleme die Menschenrechte bedrohen. Hi Klimawandel und Terrorismus und liebe Grüße an den Turbokapitalismus und an Covid-19.
Zwar sind die direkten Einflüsse auf den Menschen komplexer geworden, haben sich aber nur bedingt verändert. Die globalen Wechselwirkungen sind zu Tage getreten und überfordern die menschliche Wahrnehmung, vernebeln sogar den Blick für das Wesentliche.

An der Globalisierung hängen sich alle auf, nur um zu ignorieren, dass der einzige Unterschied heute die Erfahrbarkeit von Gleichzeitigkeit durch Technologie, Digitalisierung und Internationalisierung ist, obwohl der Mensch nur sehr wenige Dinge gleichzeitig erfahren kann. Die Unmittelbarkeit menschlicher Erfahrungen ist unbestreitbar und unteilbar. Bei Menschenrechten geht es genau darum, die Einflüsse als unkalkulierbar, quasi als egal abzutun. Der einzelne Mensch rückt ins Zentrum seiner eigenen Normen, die er nach außen verteidigen will - gegen sich selbst, den anderen Menschen. Eigentlich total absurd. Wenn jeder Mensch sich als Mensch begriffe und als nicht individuell gegenüber den anderen, wäre es einfacher, die Menschenrechte überall durchzusetzen. Was uns dabei ständig in die Quere kommt sind unsere Interessen. Interessen sind individuell und unsere Kultur unterstützt das. Es ist die Erzählung von Individuum und Freiheit, aber dazu kommen wir gleich noch.

Wir müssen einen Weg finden, uns für das Anderssein und das Gleichsein des anderen zu sensibilisieren und uns selbst darin wiedererkennen.
Das heißt auch, uns selbst akzeptieren lernen. Und vor allem: unsere eigene Würde anerkennen und allen anderen dieselbe zugestehen.

Brechen wir das mal runter:

Die Würde als Grundsatz der Menschenrechte ist der Grundstein für demokratische Verfassungen. In Deutschland gilt sie als unantastbar. Die verletzte Würde macht den Menschen  nicht weniger würdevoll, berührt aber sein inhärentes Dasein.

Das Dasein und die Würde sind gleichzeitig Bedingung und Voraussetzung zum Einhalten der verfassungsmäßigen Normen.

Frage für Zwischendurch: Einmal angetastet, lässt sich Würde wieder herstellen? Eine gewisse Nicht- Wiederherstellbarkeit der Würde ist sozusagen der Kern der Menschenrechtsproblematik. Wir befinden uns in einem Dilemma, denn zivilisatorische Normen stehen immer wieder in Frage und wir sehen Menschenrechtsverletzungen ALL OVER THE PLAC(N)E(T).
In Demokratien ist es super clever, da fußen die Grundrechte auf Menschenrechten. In der Deutschen Verfassung findet man sie von Artikel 1-19. Sie sind quasi der moralische Überbau, in den der Staat nicht eingreifen darf. Dieser muss die Grundrechte nicht nur gewähren, er muss sie auch schützen und (surprise!) verteidigen. Problematisch wird es aber schon, wenn Menschenrechte, abgeleitet als Grundrechte zu Bürgerrechten “verkommen”. Dann können nur die Staatsangehörigen innerhalb des nationalen Territoriums auf ihr Recht pochen und - auf juristischem Umweg - dazu kommen. Auch so absurd.

Gibt mir das Gericht irgendwas zurück außer der Anerkennung der Aberkennung eines Demokratierechts? Abgesehen von der problematischen Auslegung von Bürgerrechten in Demokratien sind die meisten anderen Staatsformen weder in der Lage, schlimmer noch, nicht willens, die Menschenrechte umzusetzen. Der ideelle Traum von universellen Menschenrechten wird zur utopischen Realität - Zurück zur Demokratie.


Ein demokratisches Missverständnis, das derzeit ganz breit kursiert ist die Debatte um Freiheit. Gefordert wird die Freiheit von Masken, Freiheit von Abstand, Freiheit vom Impfen und Freiheit von Rücksicht.

 

Eine zugespitzte Debatte innerhalb einer individualisierten Gesellschaft, in der die Freiheit des Einzelnen überhöht und die Freiheit aller bisher in den Hintergrund gerückt war - ganz im Sinne der Freiheit des Einzelnen. Aber Keine_r ist frei ohne alle anderen. Es wird so getan, als gehöre es zur Freiheit, um jeden Preis eine emotionale Debatte über die unwichtigsten Dinge zu führen: “Zu welchem Preis soll ich meine Freiheit einschränken? Doch nicht für die Freiheit / Gesundheit / Würde der anderen. Die könnten ja mehr frei sein als ich, wenn ich meine Freiheit einschränke.” Als wäre Freiheit, die Freiheit zu tun und zu lassen, was man will. Freiheit bedeutet, in Würde zu leben. “Doch nicht für die anderen!” Doch, für genau die. Ohne sie bekommt Mensch die eigene Freiheit nämlich nicht zurück. Und die Würde auch nicht. Denn es gibt einen Unterschied zwischen Recht und Emotion. Wir sollten unsere Emotionen zurück nehmen für die Rechte der anderen und ein bisschen emotional sein, indem wir den anderen ihr Recht zugestehen: Das Recht auf Menschsein. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“, Artikel 1 aus der Erklärung der Menschenrechte.



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Viola Stursberg lebt in Leipzig und hat Europäische Politik und Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück und an der MLU Halle studiert. Im Masterstudiengang International Area Studies spezialisierte sie sich auf Globalisierungsprozesse und forschte an der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina zur Verbesserung von Kommunikation und Koordination wissenschaftsbasierter Politikberatung auf nationaler Ebene für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen in Europa. Als Sternzeichen Krebs liebt sie den Sommer, besonders mit Matcha-Limo und Äbblwoi aus der unterfränkischen Heimat. Ihre beste Freundin sagt: „sie ist rational, aber großherzig.“ Viola arbeitet für eine Kommunikationsberatung in Berlin. Auf Sans Mots schreibt sie mit Herz und Haltung über Zeitgeistfragen und globale Phänomene.


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