Felice anno nuovo - Das Nichtjahr in Bologna

Es ist mein letzter Abend in Bologna. Wenigstens einmal möchte ich dieses Jahr einen abendlichen giro nel centro citta   machen, also gemütl...


Es ist mein letzter Abend in Bologna. Wenigstens einmal möchte ich dieses Jahr einen abendlichen giro nel centro citta  machen, also gemütlich durch die Innenstadt schlendern. Ich möchte den Weihnachtsbaum auf Piazza Nettuno vor der Bibliothek Sala Borsa wie im letzten Jahr bewundern. Möchte mich von Piazza Maggiore verabschieden und durch Via d’Azeglio laufen, in der auch dieses Jahr Weihnachtslichter in Form eines Songtextes hängen.


Chissà chissà domani su che cosa metteremo le mani 


Beginnt das Lied Futura von Lucio Dalla (4. März 1943 - 1. März 2012), einem Bologneser Sänger. Im Gegensatz zum vorigen Jahr, als ich noch keine drei Monate in Italien war, brauche ich diesmal niemanden, der mir den Text übersetzt. Wer weiß, wer weiß, was wir morgen in die Hände bekommen. 

Während wir die Straße entlang laufen, versuchen wir so gut es geht Abstand von anderen Menschen zu halten. Wir lassen das Jahr Revue passieren und erinnern uns an meinen ersten Uni-Tag als Erasmusstudentin. An das erste Semester, das wie im Flug verging und wir bereits in Plänen und Träumen für das nächste Jahr schwelgten. Mittlerweile gelingt es uns darüber zu schmunzeln, wie euphorisch wir gewesen waren. Noch zu gut kann mich daran erinnern, wie ich am Abend des 09. März gemeinsam mit meiner damaligen Mitbewohnerin die Pressekonferenz gesehen hatte, in der Giuseppe Conte verkündete, dass ganz Italien nun zona rossa sei und somit das gesamte Land im Lockdown. Io resto a casa. Ich bleibe zu Hause. Auch ich bin geblieben, zu Hause in Bologna.

Auf dem Weg zum Supermarkt waren die Straßen statt belebt nun leer. Jene Menschen, die man traf, schwiegen, alle hielten Abstand und trugen ihre Masken. Man konnte das Gewicht, das die Trauer um die Toten, die Sorgen und die Verzweiflung mit sich brachten, spüren. Die Stadt schien wie in Schockstarre. Statt   Straßenverkehr   wurden   Stimmengemurmel   und   Geschirr   Geklapper   aus   der Nachbarschaft zum allgegenwärtigen Hintergrundgeräusch.



Die mit Ramsch überladenen Mülltonnen waren nur ein Hinweis darauf, mit was sich die Menschen zu Hause die Zeit vertrieben. Um die Osterzeit fielen dann vor allem die kahl rasierten Köpfe der Männer und Jungen auf. Noch immer waren so gut wie alle Geschäfte außer jene lebensnotwendige, wie Lebensmittelmärkte und Apotheken geschlossen. Ich lenkte mich mit diesen alltäglichen Beobachtungen ab oder verlor mich in Elena Ferrantes neapolitanischer Saga, die ich mir glücklicherweise noch pünktlich aus der Bibliothek ausgeliehen hatte.


Das Ausmaß der Katastrophe und die Trauer der Italiener, aber auch Spanier und Franzosen, später der ganzen Welt um ihre Toten, waren nur schwer auszuhalten. Auch die anfangs vorhandenen Gesänge und Musik aus der Ferne wurden weniger.


Erst am 04. Mai hatten wir das Haus mit einem anderen Ziel als den Einkauf wieder verlassen können. Es waren zwei lange Monate gewesen. Schritt für Schritt schien die Stadt wieder zu erwachen, wie nach einem langen Winterschlaf. Allmählich füllten sich wieder diverse Piazza, vor den Gelaterias bildeten sich meterlange Menschenschlangen. Freunde und Bekannte sah man mit Masken, längeren Haaren und manchmal auch dem ein oder anderen Gramm mehr zum ersten Mal wieder.

Vor allem die vielen Parks und colli bolognesi boten uns die Möglichkeit endlich wieder den Himmel über uns zu haben. Wir gingen wandern und machten lange, lange Spaziergänge. Sich wieder an der freien Luft und in der Natur zu bewegen, war wohl eins der Highlights des Jahres. Als dann die online Prüfungen anstanden, tauschten wir uns zur Abwechslung nicht mehr nur über Corona, sondern auch die Uni aus. Und je wärmer und länger die Tage wurden, desto mehr entstand tatsächlich der Schein, dass alles vorbei sei. Doch dieser trügte, denn im Rest der Welt fing es gerade erst an. Den gesamten Sommer über wurde von einer zweiten Welle im Winter gesprochen. Doch ich begriff es erst, als ich mich das erste Mal wieder in einer Schlange wartend vor dem Eingang meines Stammsupermarkts wiederfand.


Das Bologna zur orangen Zone wurde, und wir somit die Stadt nicht mehr verlassen durften, passierte zur selben Zeit, in der ich die Daumen drückte, dass Biden die Wahlen in den USA gewinnen würde und eine Freundin mir verkündete, dass sie schwanger sei.


Diesmal waren es jedoch nicht nur meine Eltern, die besorgt die Nachrichten aus Italien lasen, sondern ebenso ich, die sich aufgrund der Entwicklung in Deutschland sorgte. Anfang des Jahres,hatte ich mich mit dem Gedanken getröstet, dass es Deutschland nicht so schlimm getroffen hätte und die Krankenhäuser noch jede Menge Kapazität hätten.



Als wir das Ende von Via d’Azeglio erreichen, leuchten über uns die letzten Sätze des Liedes


Aspettiamo che ritorni la luce di sentire una voce
Aspetttiamo senza avere paura, domani

Wir warten, dass das Licht zurückkehrt, um eine Stimme zu hören. Wir warten ohne Angst, morgen. Als wir uns verabschieden, wünschen wir einander Buon Natale und sind doch vorsichtig bei felice anno nuovo. Es bleibt zu viel Angst, dass das Jahr 2020 zwar zu Ende geht, die Veränderungen durch die Pandemie, jedoch weiter gehen und wir weiterhin versuchen mit einer neuen Normalität zuleben, die häufig alles andere als glücklich erscheint.

Am nächsten Tag im Flugzeug, das mich von Bologna nach Frankfurt bringt, sind mehr Plätze leer als belegt. Während ich den Regen in Bologna hinter mir lasse, scheint über den Wolken die Sonne. Auf den Alpen liegt Schnee. Erst kurz bevor wir landen, sind die Lichter des Frankfurter Flughafens zuerkennen. Die Sonne ist verschwunden, stattdessen sind wir von grauen Regenwolken und Nebel eingehüllt. Draußen vor dem Eingang der Abflughalle begrüßen mein Vater und ich uns mit einem Ellen-Bogen-Check. Auf der Autofahrt nach Hause behalten wir unsere Masken an. Am nächsten Morgen, dem dritten Advent, steht es endgültig fest: Deutschland streicht das light vor dem Lockdown. Der zweite Lockdown für mich dieses Jahr – diesmal in Deutschland




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Leni lebt aktuell in Frankfurt, von wo aus sie ihren Master in Ökotrophologie beendet. Zuvor hat sie anderthalb Jahre in Bologna gelebt und studiert. Neben Essen und Italien, liebt sie den Sommer und die Natur. In ihrer freien Zeit verliert sie sich gerne in Büchern oder auch schnell mal in eigenen Gedanken und Grübeleien. Ihre aktuelle Obsession ist Sally Rooney. In ihren eigenen Texten setzt sie sich oft mit alltäglichen Erfahrungen und Beobachtungen auseinander. Denn gerade diese sind es, mit denen Beziehungs- und Gesellschaftsstrukturen aufgezeigt werden können.






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