Die Poetin, die uns nicht aus dem Kopf geht: Amanda Gorman - eine Annäherung

  Als Amanda Gorman die Bühne betritt, um ihr Gedicht für die Amtseinführung von Joe Biden zu rezitieren, denke ich: Wow, es blendet mich. U...

 

Als Amanda Gorman die Bühne betritt, um ihr Gedicht für die Amtseinführung von Joe Biden zu rezitieren, denke ich: Wow, es blendet mich. Und damit meine ich nicht ihren gelben Prada-Mantel. Leider schaue ich die Amtseinführung auf einem deutschen Sender, der simultan übersetzt. Und so ahne ich nur, dass Amanda Gorman in diesen Minuten Welt verändernde Sätze spricht. Die Übersetzung ist eine Katastrophe und ich bin leicht gereizt.

Ich will hören, was sie meint, weil ihre Gesten so viel sagen. Mir treibt es die Tränen in die Augen als ich einzelne Passagen des Gedichts höre, das ich mir später im Internet mindestens drei Mal anschaue. Ich liege also nachts im Bett, überemotionalisiert von historischen Bildern des Tages, suche ich ihren Instagram-Account auf und sehe, sie hat schon 400.000 Follower:innen. Wie konnte sie an mir vorbeigehen, frage ich mich. Endlich hat sie die Bühne betreten und tritt durch eine unsichtbare Tür in die Köpfe von Millionen Menschen ein. Am nächsten Morgen spült mir ihre Instagram-Story den Sand aus den Augen, sie sagt, ihre App sei überlastet und sie hat über Nacht unzählige Unterstützer:innen gewonnen. Kein Wunder.Ihr Gedicht “The Hill We Climb” schlägt ein wie eine Bombe und bringt für einen Moment den Frieden, den die Vereinigten Staaten von Amerika so ersehnen. Wer ist diese Person, die wie ein Wirbelwind das Land und seine Gemüter durcheinander und den Sturm der letzten Tage zum Schweigen bringt?


Amanda Gorman ist 23 Jahre alt. Sie hat in Harvard einen Bachelor in Soziologie abgeschlossen und war 2017 ‘National Youth Poet Laureate’, sozusagen Preisträgerin des nationalen Jugenddichterpreises. Aufgewachsen ist sie in Los Angeles als eine von Zwillingsschwestern einer alleinerziehenden Mutter. Für die Zuhörer ist sie aus dem Nichts ins Rampenlicht getreten. Insgeheim gehört es aber seit Jahren zu ihrem Anspruch, dass sie nur Gedichte für die Öffentlichkeit schreibt, die so gut sind, dass sie dadurch als Poetin für eine Amtseinführung in Betracht gezogen werden könnte. Quod erat demonstrandum.

Seit Jahren verfolgt sie einen weiteren Plan: “Sobald ich alt genug bin, kandidiere ich als Präsidentschaftskandidatin für die Vereinigten Staaten von Amerika.” Sie will für die Demokraten antreten, for sure. Alt genug dafür wird sie 2033, die nächste Wahl findet 2036 statt, dann ist sie 38 Jahre alt, halb so alt wie Joe Biden heute. Obwohl es seine Amtseinführung als 46. Präsident der USA war, ist es ihr Auftritt über den danach die westliche Welt spricht.

Es ist der Sturm auf das Kapitol Anfang Januar 2021, unter dessen Eindruck sie das Gedicht schreibt und mit dem sie in die Geschichtsbücher eingeht. Bei CNN erklärt sie, die Ereignisse des 6. Januar hätten das Gedicht inhaltlich aber kaum verändert, weil sie von den Geschehnissen nicht wirklich überrascht gewesen sei. Kein Monat nach den unvergesslichen Szenen wird sie selbst zum Symbol auf dem Kapitol:


“I’m still struggling with the fact that I entered the historical record.”


Seit der Inauguration sind ihre noch unveröffentlichten Bücher auf der Bestsellerliste von Amazon in Nordamerika, darunter ihr Inauguration-Gedicht, das diese Woche (30.03.2021) auch in Deutschland erscheint. In Europa wird gerade darüber debattiert, ob die Übersetzung ihrer Werke von nicht-schwarzen Personen vorgenommen werden darf. Ende offen.

Es ist ein regelrechter Medien-Hype entstanden: “Time”-Magazine Cover mit Interview, exklusiv geführt von Michelle Obama; ein Modelvertrag bei IMG; Video-Auftritte in Talkshows und in einem AppleTV+ Format mit Oprah Winfrey. Mehr noch, Passagen ihres berühmten Gedichts stehen auf Klassenzimmertüren als Inspiration für Schulkinder quer durch die USA; sie trug ein Gedicht beim Super Bowl vor, das drei Alltags-Held:innen und deren Verdienst in der Pandemie ehrt. Nicht nur ihr optischer, sondern auch ihr virtueller Auftritt versprüht so viel Kraft und Auftrieb, dass einem beim Zusehen schwindelig wird.

Während sie verehrt wird, verfolgt sie hehre Ziele:

Sie sieht sich in der Tradition des ‘Civil Rights Movements’ der 1960er Jahre, bei dem die Protestierenden nur in Sonntagskleidung auf die Straße gingen und will diese Haltung und Mode im Jetzt neu interpretieren und weiterentwickeln. In völligem Bewusstsein ihrer Außenwirkung, das keinen Zufall zulässt, nimmt sie auf dem Cover des “Time”-Magazine Stil und Pose ein, die an italienische Porträts der Renaissance erinnern.

Im “Time”-Interview spricht sie über eine Renaissance der Künste, die Schwarz ist:


“The Renaissance is black.”


Sie meint damit die Entwicklung der US-amerikanischen Gesellschaft unter dem Einfluss und der gleichberechtigten Teilhabe Schwarzer Menschen und PoC, vor allem geprägt durch deren Kunst und dem damit verbundenen Ausdruck Schwarzer Lebensrealität. Sie selbst beschreibt sich als Konsumentin dieser Künste und gleichzeitig absorbierende Schaffende im selben Kreislauf. Diese neue Renaissance wäre die dritte Schwarze Renaissance nach der ‘Harlem Renaissance’ der 1920er und des ‘Black Arts Movements’ der 1960er und 1970er Jahre, in der Schwarze Künstler:innnen und Medienschaffende unabhängig vom weißen Blick sind und diesen auch nicht mehr bedienen wollen. Es ist eine ideale Vorstellung und höchste Zeit, dass die weiße Realität mitzieht.

In einem flankierenden Video zu diesem Interview erzählt Amanda Gorman, auf Selfies mit Freund:innen zu verzichten, damit die Öffentlichkeit keine Bilder von ihr bekommt, die ihr eines Tages schaden könnten. Sie kann Tage sehen, von denen wir nicht wussten, dass sie kommen werden. Sie hat ein Selbstbewusstsein, das vielen abgeht, die mindestens doppelt so alt sind und weit mehr Verantwortung tragen. Ihre Haltung und ihre Präsenz werfen ein Licht und eine Erwartung auf eine Generation, die für mehr als die Hoffnung steht, welche auf derselben lasten wird.

Amanda Gormann lässt Amerika wieder träumen, während sie auf dem Weg ist, ihren eigenen American Dream zu verwirklichen. Sie verleiht der Lyrik ein zeitgenössisches Antlitz und verbreitet Hoffnung.

We are striving to forge our union with purpose. To compose a country, committed to all cultures, colors, characters, and conditions of man. And so we lift our gaze, not to what stands between us but what stands before us.

Gleichzeitig leicht und doch schwer weisen ihre Wort einen Weg in die helle Zukunft, in der sie strahlt.

So let us leave behind a country better than the one we were left with. Every breath, my bronze-pounded chest. We will raise this wounded world into a wondrous one.

Sie gibt Halt.

Let the globe, if nothing else, say, this is true: That even as we grieved, we grew. That even as we hurt, we hoped. That even as we tired, we tried. That we'll forever be tied together, victorious.

Und ermutigt, den Fortschritt der Gesellschaft selbst in die Hand zu nehmen.

We will rebuild, reconcile and recover and every known nook of our nation. And every corner called our country. Our people diverse and beautiful will emerge, battered and beautiful.

Sie lädt uns alle ein, mit ihr im Licht zu tanzen.

For there was always light. If only we're brave enough to see it. If only we're brave enough to be it.

Und sie verspricht, bald wieder da zu sein wie ein alljährlicher Hurrikan. Let the season begin.





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Viola Stursberg lebt in Leipzig und hat Europäische Politik und Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück und an der MLU Halle studiert. Im Masterstudiengang International Area Studies spezialisierte sie sich auf Globalisierungsprozesse und forschte an der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina zur Verbesserung von Kommunikation und Koordination wissenschaftsbasierter Politikberatung auf nationaler Ebene für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen in Europa. Als Sternzeichen Krebs liebt sie den Sommer, besonders mit Matcha-Limo und Äbblwoi aus der unterfränkischen Heimat. Ihre beste Freundin sagt: „sie ist rational, aber großherzig.“ Viola arbeitet für eine Kommunikationsberatung in Berlin. Auf Sans Mots schreibt sie mit Herz und Haltung über Zeitgeistfragen und globale Phänomene.


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Zum Weiterlesen:

Link Homepage Amanda Gorman: https://www.theamandagorman.com/

Link zum Gedicht “The Hill We Climb”: https://edition.cnn.com/2021/01/20/politics/amanda-gorman-inaugural-poem-transcript/index.html

Link Bücher auf Amazon: https://www.amazon.de/s?k=amanda+gorman&__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&ref=nb_sb_noss_1

Link zum “Time”-Magazine Interview: https://time.com/5933596/amanda-gorman-michelle-obama-interview/

Das Video zur Geschichte hinter dem “Time”-Magazine Interview: https://time.com/5935798/amanda-gorman-cover/

Zum Weiterlesen “Time”-Magazin Black Renaissance: https://time.com/collection/renaissance-is-black/5932842/ibram-kendi-black-renaissance/

Zum Weiterlesen “Zeit Online Kultur”: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2021-01/amanda-gorman-inauguration-joe-biden-usa-lyrik

Zum Weiterlesen “Zeit Online Literatur”: https://www.zeit.de/news/2021-03/26/uebersetzungsdebatte-um-amanda-gormans-gedichte

Zum Weiterlesen FAZ zum 55. NFL-Super Bowl-Auftritt: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/super-bowl-amanda-gorman-ehrt-corona-helden-mit-gedicht-17187305.html

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