Reden ist Silber, Wegschauen ist Gold - Die Grammys 2021 und ihre Probleme

Ich bin tief in ein „Schitt’s Creek“-Bingewatch-Loch gefallen, als sich Alexis und ihre Mutter Moira in Staffel 3 Folge 2 besser kennenlern...

Ich bin tief in ein „Schitt’s Creek“-Bingewatch-Loch gefallen, als sich Alexis und ihre Mutter Moira in Staffel 3 Folge 2 besser kennenlernen möchten. Es werden Standardfragen von einem Notizzettel ausgetauscht, schließlich fragt Alexis: „What is your favorite season?“ worauf Moira kurz überlegt, dann „Awards“ antwortet. Cut. Ich lache lauter, als es für einen allein wohnenden Menschen um eine abendliche Uhrzeit angemessen ist. „Das bin ich“ denke ich.

Während Deutschland auf dem Feld immer enttäuschender wird, konnte ich mich bisher zumindest immer auf die internationalen Formate verlassen. Golden Globes, die Oscars, BAFTAs, BRITs und und und. Atemraubende Kleider, herzerwärmende Zusammenkünfte der Celebrity Crushes und Auftritte, über die man (also ich) noch Jahre sprechen wird. Das ist in Zeiten von Corona nicht mehr allzu spektakulär, reizen tut es mich dennoch.

Am 14. März (nachdem es ursprünglich Ende Januar soweit sein sollte) wird die Musikwelt zum 63. Mal auf’s sonnige Los Angeles schauen, wo in inzwischen 84 Kategorien ein goldenes Grammophon verliehen wird. Hachja, die Grammys. Fluch und Segen zugleich. Schillernd auf dem roten Teppich, unter den man Jahr um Jahr die Probleme und kritischen Stimmen kehrt.



BLINDED BY THE LIGHTS

In den 52 Wochen, die zwischen zwei Grammy Verleihungen liegen, erscheinen an 52 Release Freitagen eine unfassbare Menge neuer Songs, Alben und Newcomer. Beschränkt man sich auf die großen popkulturellen Kategorien, landen wir bei ca. 20, in denen zwischen 5 und 8 Plätze vergeben werden können.

Ein minimaler Bruchteil des Musikuniversums mit maximaler Aufmerksamkeit. Und auch wenn nicht alle Lieblingskünstler*innen auf die wenigen Spots verteilt und geehrt werden können, so malen Pressechos, Streamingzahlen, Verkaufshochrechnungen und universelle Liebe theoretisch ein gutes Vorabbild. Die Betonung liegt hier auf dem Wort „theoretisch“. Denn Jahr und Jahr wird der Aufschrei wenige Minuten nach Bekanntgabe der letzten Shortlist laut. Sogenannte „Artist Snubs“ sind quasi der Running Gag der Grammy-Jury.
In seiner sanften Form sind umjubelte Künstler*innen für etliche Kategorien nominiert und die Buchhalter*innen mit jeder Menge Wettscheinen belagert – wacht man am nächsten Morgen auf und googlet die Gewinner*innen, ist vom besagten Artist allerdings kein jubelndes, Award-küssendes Foto zu finden. Berühmte Beispiele sind Mariah Carey (1996 - 6 Nominierungen), Beyoncé (2017 - 3 Nominierungen für „Lemonade“), Kanye West (2012 - „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ gewann zwar Best Rap Album, war aber zum Entsetzen vieler nicht für Album of the Year nominiert).

In härteren Fällen werden Künstler*innen zu wenig oder gar nicht berücksichtigt. Wie Frank Ocean, der 2017 für sein herausragendes Album „Blonde“ keine einzige Nominierung erhielt. Doch nie war es offensichtlicher als jetzt: The Weeknd, der Ende 2019 seine Single „Blinding Lights“ veröffentlichte und damit eigenhändig den Disco Pop zurückbrachte, TikTok in seiner ersten Quarantäne-Hochphase (ebenfalls enthalten: Tiger King, Bananenbrot und Hoffnung) mit einer fancy Tanzperformance überrollte und jeden, wirklich jeden Tag mehrfach im Radio lief, ist für keine einzige Kategorie nominiert. KEINE. EINZIGE. So nervig der Song auch ab ca. Mitte Mai wurde, so essenziell war er für das Jahr 2020, so überraschend prägend für den musikalischen Konsens. Peinliche Erklärungsversuche von CEO Harvey Mason jr. hat das Variety Magazine in einem Interview erhalten. 


I’M DREAMING OF THE WHITE GRAMMYS

Die Grammys haben, surprise surprise, ein Rassismusproblem. Wundert uns das in einer von weißen, privilegierten Cis-Männern geführten Industrie? Nicht wirklich. Das Racial Bias-Problem des Awards hat sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag - shit’s real. Ringen sich die Herrschaften dazu durch, BIPoC-Künstler*innen zu nominieren, werden diese häufig mit Sub-Kategorien vertröstet. Tyler, The Creator fasste es 2020 perfekt zusammen, nachdem er für sein Album „IGOR“ den Preis für Best Rap Album gewann:

 

"It sucks that whenever we — and I mean guys that look like me — do anything that's genre-bending or that's anything they always put it in a rap or urban category. I don't like that 'urban' word — it's just a politically correct way to say the n-word to me.“ (Quelle)



Als wenige Monate später, ausgelöst von George Floyds Tod und der Black Lives Matter-Bewegung jede Institution kritisch hinterfragt wurde, nahm man sich hier die jahrelange Kritik halb zu Herzen und benannte eine Handvoll Kategorien um, aus wurde beispielsweise Best Urban Contemporary Album wurde Best Progressive R&B Album. Und damit sind alle Probleme gelöst? Wohl kaum.

Ann Powers von npr schrieb nach der weitestgehend unangenehmen Preisverleihung 2017, wie groß das Problem tatsächlich sei:


„Achieving the ideal of equality is provingas heartbreakingly difficult for the recording industry as it is for all of America.“


Mal wieder hatte eine weiße Künstlerin (Adele) den Award für Album of the Year gewonnen, mal wieder war der Anteil nominierter BIPoCArtists zu gering. Im Jahr drauf war eine der fünf Nominierten weiß – und man dachte kurz, es hätte sich wirklich etwas getan. Bruno Mars gewann als erster nicht-weißer Künstler seit Herbie Hancock (2008) und als zweiter nicht-weißer Künstler überhaupt in der 60-jährigen Geschichte der Preisverleihung diese Kategorie. Um die Hoffnungen aber nicht allzu lange oben zu halten: Die darauffolgenden Jahre waren wieder ähnlich katastrophal wie die vorherigen.

Und wie sieht es 2021 aus? Von acht Album of the Year-Nominierten sind sechs weiß. Puh, was soll man da noch sagen?! Schnell weiter. Die aktuell erfolgreichste Band der Welt, BTS, erhalten nach Jahren der Ignoranz ihre allererste Nominierung für ihren 2020-Überhit „Dynamite“, allerdings „nur“ in der Kategorie Best Pop Duo/Group Performance. Reiner Zufall, dass es der erste rein englische Song der K-Pop-Stars ist?

Oder der puertorikanische Künstler Bad Bunny, der in der selben Kategorie mit dem Song „Un Die (One Day)“ gemeinsam mit J Balvin, Tainy und Dua Lipa nominiert ist. Der Popstar dominiert seit Jahren die Latin Grammys und hat sich erst vor wenigen Wochen mit seinem zweiten Album in diesem Jahr auf Platz 1 der Billboard 200 Charts katapultiert – als erstes rein spanisch-sprachiges Album jemals. Solo bleibt Bad Bunny allerdings wieder irgendwo in die Latin-Kategorien vergraben, die im besten Fall nicht mal in der Fernsehübertragung gezeigt wird. Und ohne Dua Lipa, die in ca. jeder Kategorie nominiert ist, hätte es der Song kaum auf die Liste geschafft.

Bist du nicht weiß, musst du also mindestens komplett auf Englisch singen, um für die hochkarätigen Plätze beachtet zu werden. Und dir im besten Fall noch eines der großen Zugpferde schnappen. Egal, wie gut dein Jahr war und wie international deine Fanbase ist. Währenddessen heulte Justin Bieber übrigens am Tag des Shortlist-Reveals rum, dass sein Album „Purpose“ fälschlicherweise für die Pop- und nicht die R&B-Kategorien nominiert wurde. Justin, check your privilege. 


THE BOYS CLUB

Kennt ihr das Patriarchat? In Zeiten von Beyoncé, Lizzo und Cardi B könnte man meinen, diesen elendigen Gegner besiegt zu haben. Aber setzt euch lieber vor den nächsten Not So Fun Fact:


Die Annenberg Inclusion Initiative veröffentlichte 2018 eine Studie, die aufzeigte, dass im Zeitraum von 2013 bis 2018 nur 9,3% der Nominees für die renommiertesten Kategorien ("Producer of the Year“, „Record of the Year", "Album of the Year", "Song of the Year", "Best New Artist“) weiblich waren.


WAS ZUR HÖLLE? Und was antwortete der damalige Recording Academy–CEO Neil Portnow darauf: “It has to begin with… women who have the creativity in their hearts and souls, who want to be musicians, who want to be engineers, producers, and want to be part of the industry on the executive level… [They need] to step up because I think they would be welcome.” (Quelle)



Festival-Line-Ups mit rund 100 Bands, von denen 3 weiblich besetzt sind. Fragende Gesichter bei der Verleihung der BRIT Awards Anfang diesen Jahres, als männliche Künstler peinlich berührt einen Preis nach dem anderen abholen mussten und kritisierten, dass zu wenige Frauen nominiert wären. Als ich in diesem Sommer für THE MELLOW MUSIC die Popkünstlerin FLETCHER interviewte, sagte sie etwas, das die Branche für mich in ein anderes, klareres Licht rückte: „Das System wurde von und für weiße Männer geschaffen. Und so funktioniert es dann. Das System ist nicht kaputt – es funktioniert genau so, wie es designed wurde.“
Hin und wieder gibt es dann doch kurze, mutmachende Meldungen. Zum Beispiel, als für die jahrzehntelang männlich dominierte Kategorie Best Rock Performance 2021 ausschließlich Frauen nominiert wurden. Das war ein so besonderes Ereignis, dass direkt tiefgetroffene Männer das Wort „Sexismus“ ins Internet schreiben mussten. Kannste dir nicht ausdenken.

DAS DUGAN-GATE



Am 01. August 2019 wird Deborah Dugan CEO und Präsidentin der Recording Academy, die erste Frau in dieser Position. Am 16. Januar 2020, wenige Tage vor der Preisverleihung, wird sie beurlaubt und suspendiert. Mobbingvorwürfe sollen der Grund sein.
Die wahre Begründung, so fasst es nicht nur Dugan selbst auf, liegt in ihren vorhergegangen internen Beschwerden über sexuelle Belästigung, ein Fall von Vergewaltigung, sexistische Lohnverteilungen und Unregelmäßigkeiten bei den Nominierungen, die sie im Dezember 2019 in einer Länge von 44 Seiten per Mail an die HR-Abteilung der Academy sendete. Nach fehlender Reaktion droht sie mit rechtlichen Schritten. In der Woche nach ihrer Suspendierung reicht sie schließlich eine Diskriminierungsklage ein.

Wenige Tage später lächeln euphorische Stars in große Kameras und baden im Blitzlichtgewitter. Über Deborah Dugan spricht im Staples Center in Los Angeles – ja, richtig – niemand. Keine Proteste auf dem roten Teppich, keine entbrannten Wutreden bei der Preisübergabe, kein Zuhause bleiben aus Solidarität. Nichts. Am 02. März 2020 wird sie offiziell entlassen. Der neue CEO ist natürlich wieder ein Mann, wir sind hier schließlich bei den Grammys. 

FAZIT

Wieso die Grammys nicht einfach neumodisch gecancelt werden? Für Künstler*innen sind Grammy-Nominierungen und -Gewinne ein Karrierehighlight, ein Qualitätssiegel für das sowieso schon gute Jahr und hier und da auch Sprungbrett für die nächste Stufe auf der Karriereleiter. Was bedeutet, dass viele der Nominierten gegeißelt vom Druck, der auf diesem Preis liegt, lieber peinlich berührt wegschauen, als sich selbst ans Messer zu liefern. Was uns übrig als passive Zuschauer*innen bleibt, ist, solche Institutionen und Systeme kritisch zu konsumieren. Probleme und Kritik nicht auszublenden, sondern sich bewusst damit auseinanderzusetzen. Und zu hoffen, dass zumindest die Verleihung selbst nicht eine weitere misogynweiße Katastrophe wird. 



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Anna ist ein Ruhrpottkind, das es irgendwann ins malerische Wuppertal verschlagen hat. Nach ihrem Germanistik- & Politikwissenschaftsstudium an der HHU ist sie schlussendlich doch dort gelandet, wo sie immer hinwollte: Die Eventbranche. Dort politiert sie seit 5 Jahren als kreative Konzeptionerin dröge Themen auf. Nach einem Glühwein im Winter 2017 gründete sie mit Freund*innen außerdem den Musikblog THE MELLOW MUSIC, auf dem sie sich mit ihren Lieblingskünstler*innen unterhält und in zu vielen Reviews schreibt, dass Bon Iver’s „22, A Million“ einen Einfluss hatte. In ihrer Freizeit liebt Anna Popkultur ebenso sehr wie lange Spaziergänge, die koreanische Küche, Harry Styles und Fashion Week-Fachgesimpel. Ihr größter Traum ist es, irgendwann einmal in London zu leben und kitschige Romane zu schreiben. Und dass ihr Birth Chart sehr genau mit ihrem Myers-Briggs-Typen übereinstimmt, kann kein Zufall sein. 

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