KUNST & PSYCHE | Das Innere nach außen kehren

Als wir die Anfrage bekamen einen Text über Kunst und mentale Gesundheit zu schreiben, haben wir keine Sekunde gezögert. So schwer kann es n...

Als wir die Anfrage bekamen einen Text über Kunst und mentale Gesundheit zu schreiben, haben wir keine Sekunde gezögert. So schwer kann es nicht sein, schließlich sprechen wir jeden Tag über Kunst. Sagen wir es mal so: Wir haben uns geirrt. Kunst und mentale Gesundheit sind Themen, die uns vertraut sind, doch wo liegt ihre Schnittstelle? Sollte es in diesem Text darum gehen welchen Einfluss Kunst auf unsere mentale Gesundheit hat oder darum, wie Künstler:innen mit diesem Thema in ihren Werken umgehen? Der Text beleuchtet beides.



Viele Menschen fragen uns, wieso es so wichtig ist über Kunst nachzudenken, von ihr zu lernen und vor allem über sie zu sprechen. Ob es denn nicht ein „unnötiges Luxusgut“ sei, vorbehalten für all die, die „keine anderen Probleme hätten“? Kommt Euch das bekannt vor? Mit den gleichen Worten wird oft argumentiert, wenn es in der öffentlichen Diskussion um mentale Gesundheit geht.

„Ah, etwas zusammenreißen und weiter geht’s. Anderen geht es schlechter und ich kann es mir nicht leisten mich mit meinen „Luxusproblemen“ zu beschäftigen.“ - Wer hat diese oder ähnliche Gedanken nicht schon einmal gehört oder sogar selbst gehabt? Wieso fällt es uns so verdammt schwer über mentale Gesundheit zu sprechen? Wieso ist dieses Thema für viele Menschen immer noch immer noch „ungreifbar“ oder gar eine Art Tabuthema? Und wieso gehen wir häufig davon aus, dass dieses Thema, ähnlich wie die Auseinandersetzung mit Kunst, nur ein unnötiges Luxusgut ist?

Bevor wir vor 23 Jahren nach Deutschland kamen, hatten wir wenig, oder besser gesagt nichts, mit Kunst zu tun. Hier in Deutschland fand Anjelika schnell ihren Weg ins Museum und damit auch ins Studium der Kunstgeschichte. Auch wenn zunächst weniger freiwillig, folgte Karina in die Ausstellungshäuser und lernte schnell, Kunst zu sehen und zu lieben. Aus unserer persönlichen Erfahrung wissen wir, dass wir Kunst brauchen, um das innere Gleichgewicht zu erlangen. Manche gehen in den Bergen wandern, wir gehen ins Museum. Das innere Loslassen, das wertfreie Betrachten, die stille Freude und das überkommende Glücksgefühl kennen wir in dieser Intensität ausschließlich aus der Begegnung mit Kunst. Wieso zieht es uns also in Zeiten mentaler Erschöpfung zur Kunst? Ist es eine persönliche Präferenz oder belegbare Tatsache?


Tatsächlich ergeben Studien, dass regelmäßige Museumsbesuche enormen Einfluss auf die Lebensdauer und Lebensqualität haben.


Es wurde nachgewiesen, dass der Besuch von Kunstausstellungen und ähnlichen Veranstaltungen Risiken unterschiedlicher Krankheiten einschränkt und die Sterblichkeitsrate bei Erwachsenen senkt. Die Forschung legt sowohl neurologische und psychologische Studien vor, die alle den Einfluss von Kunst auf das Wohlbefinden der Menschen belegen. Dies bedeutet also, dass sich Kunst sowohl auf den Geist als auch auf den Körper der Besuchenden auswirkt.





Natürlich schleppen wir uns bei einer Grippe nicht ins Museum, aber wenn wir wieder mal aus der Mitte fallen, Zweifel hegen und nicht mehr weiterwissen, gehen wir in eine Ausstellung. Kunst ist unsere Therapeutin, die uns weiterhilft. Aber jede:r, der schon einmal in Therapie war, weiß dass es auch unangenehm werden kann.


Ähnlich wie eine Therapie muss und soll Kunst nicht immer schön und beruhigend sein. Würden wir uns immer nur an der seichten Oberfläche bewegen, könnten wir nie in die Abgründe schauen, die hinter der stillen Schönheit lauern.


Häufig erleben wir bei unserer Arbeit mit Gruppen, dass Besucher:innen davon getriggert werden. Ein und dasselbe Werk kann bei verschiedenen Betrachter:innen unterschiedliche, ja gegensätzliche Reaktionen auslösen.

Das großformatige Gemälde von Rupprecht Geiger in grellen Rot – Pink- und Orangetönen stellt für die meisten Besucher:innen der Neuen Galerie in Kassel etwas durch und durch Positives dar: ein Sonnenuntergang, Wärme, Licht, Hoffnung. Dennoch gibt es Besucher:innen, die das Bild nicht ansehen können, da es für sie zu viel, zu intensiv, zu brutal oder gar hässlich ist.


„Was sich der Künstler dabei gedacht hat“ ist nebensächlich und die Reaktion des Publikums auf sein Werk liegt außerhalb seiner Kontrolle. Das Erleben eines Kunstwerks macht etwas mit uns und unserer Psyche. Ob wir es wollen und uns zugestehen, oder nicht. Selbst wenn wir eigentlich keine Lust auf einen Ausstellungsbesuch haben, uns dabei langweilen oder den ausgestellten Künstler blöd finden, löst es in uns eine Reihe psychischer und emotionaler Reaktionen aus. Während einer Führung erwähnte eine Dame kürzlich, dass sie die zeitgenössische Kunst rasend machen würde. Sie nannte einige Gründe für ihr Empfinden und gab die Frage an uns zurück. Wie stehen wir zu zeitgenössischer Kunst? Aber die einzig relevante Frage ist doch, wieso sie von ein wenig Farbe auf Leinwand aus ihrem Gleichgewicht gebracht wird? Wem gilt ihre Wut wirklich?

Dass die Kunst Menschen nicht nur entzückt, sondern auch Unbehagen bereitet, ist nicht neu und keineswegs ein Phänomen der zeitgenössischen Kunst. Die Moralisten regten sich damals wie heute über die Zügellosigkeit mancher Sujets auf. Viel härter und lauter fiel die Kritik aus, wenn ein Werk nicht auf Anhieb verstanden wurde.

Edward Munchs „Der Schrei“ von 1893 gilt heute als Ikone der Moderne. Sein zutiefst sensibles Werk berührt Menschen auf der ganzen Welt und ist gleichzeitig Teil der heutigen Popkultur, das auf Memes, T- Shirts und Postern in der ganzen Welt zu sehen ist. Dabei malte Munch häufig nichts anderes als seine eigene Realität. Von Jung an war er mit den belastenden Zuständen, innerer Zerrissenheit, ständigen Selbstzweifeln und Depression bestens vertraut.




Dies und nichts anderes übertrug er in grellen Farben und expressiven Formen auf die Leinwand. Ein Mensch, von dem archaischsten aller Gefühle geplagt – der Angst. Munchs Genie und „Verbrechen“ bestand darin, dies nicht unter dem „schönen Schein“ zu verbergen, sondern das Innerste nach Außen zu kehren und zur Schau zu stellen. Was daraus wurde, kann man erahnen.

Die erste Munch-Ausstellung in Berlin (Munch Fall, 1892) verursachte den größten Skandal, den die Kunstwelt in Deutschland bis dahin erlebt hatte. Im untergehenden Kaiserreich mit der „alles unter den Teppich kehren“-Mentalität war seine „schonungslose Kunst“ zu viel. In jener Zeit, in der das Innenleben mit aller Gewalt unter Verschluss gehalten und das Abweichen von der vorgeschriebenen Norm als krankhaft gedeutet wurde, wollte und konnte ein Großteil die Werke des Künstlers nicht sehen.


Damals, als die Erforschung der menschlichen Psyche noch in Kinderschuhen war, legte Munch den Grundstein für die Künstler:innen, die fortan ihr Inneres nach außen kehren würden.


Zu seinen Lebzeiten war das Publikum noch nicht darauf vorbereitet. Beim Betrachten Munchs düsterer Bilder schien das längst Verdrängte jedes Einzelnen an die Oberfläche zu kommen und man hielt es schier und einfach nicht aus. Zu groß war die Gefahr den eigenen inneren Dämonen zu begegnen. Die Ausstellung wurde zu einem ungeheuren Skandal und nach nur einer Woche geschlossen.

Aber mal ganz ehrlich: Waren es wirklich die Malweise, das Sujet oder der Farbauftrag, die das Publikum, die Kunstkritiker oder Malerkolleg:innen so wütend machten? Ob in der Kunst oder im täglichen Dasein sollten wir uns öfter die folgende Frage stellen: Warum macht mich ein schwarzes Gemälde, ein Fettfleck, die entstellte Skulptur, eine Performance traurig, sauer oder wütend? Liegt es WIRKLICH an dem was ich sehe, oder an dem was ich in mir nicht sehen will? Denn am Ende gilt: Ob im Museum oder in der Therapie, im Grunde genommen begegnen wir immer wieder nur uns selbst.


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Anjelika und Karina sind Mutter und Tochter, Kolleginnen aber vor allem begeisterte Kunsthistorikerinnen. Neben Kunstgeschichte studierte Anjelika Soziologie und Psychologie und Karina Vergleichende Kultur- und Religionswissenschaften. Nach jahrelanger Arbeit für unterschiedliche Museen gründeten sie Anfang 2020 KUNST + kaviar. Sie sind der festen Überzeugung, dass Kunst kein elitäres Luxusprodukt sei und dass jeder Mensch Freude an Kunst haben kann. Gemeinsam widmen sie sich unterschiedlichen Themen, hinterfragen die häufig sehr männlich geprägte Kunstgeschichtsschreibung und versuchen auch die Menschen für Kunst zu begeistern, die sich nicht zum klassischen Museumspublikum zählen.

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