Feministischer Buchclub #03 | Das Patriarchat der Dinge
Sonntag, November 14, 2021Den Namen Rosalind Franklin hatte ich noch nie gehört. Dass die Frau die heutige Grundlage der DNA-Forschung lieferte, wusste ich nicht. Ich erinnere mich noch genau zurück, an die Bio-Stunde in der zehnten Klasse. Ich weiß sogar noch, in welchem Raum, an welchem Tisch ich saß, als ich die Seite im Buch aufgeschlagen habe.
Tippt man bei Google „DNA-Entdeckung“ ein, dann sieht man als erstes Ergebnis das berühmte Foto von James Watson und Francis Crick, das auch in meinem Biologie-Buch abgedruckt war. Die Molekularbiologen erhielten 1962, gemeinsam mit dem Physiker Maurice Wilkins, den Nobelpreis für Physiologie und Medizin. In der Schule habe ich gelernt, dass sie es waren, die die DNA entdeckt haben. Und zum Teil stimmt das auch. Die Forscher waren maßgeblich daran beteiligt, die Struktur der Doppelhelix zu entschlüsseln.
Wenn man bei den Google-Ergebnissen jetzt ein bisschen herunterscrollst, erscheinen auch Fotos der Biochemikerin Rosalind Franklin. Die Frau, ohne die die Wissenschaftler den Nobelpreis wahrscheinlich niemals erhalten hätten. Denn was die wenigsten wissen, mich bis vor ein paar Monaten eingeschlossen: Rosalind Franklin lieferte zuerst das Röntgenbild, auf der die Struktur der DNA zu erkennen war. Die Anerkennung für Watson und Crick basiert auf den Forschungsergebnissen von Franklin, die in meinem Biologiebuch nicht erwähnt wurde.
Männlich designter Alltag
„Weibliche Erfolge werden immer noch häufig Männern zugeschrieben“, erklärt Rebekka Endler den Matilda-Effekt. Die Autorin, Journalistin und Podcasterin veröffentlicht 2021 ihr erstes Sachbuch „Das Patriarchat der Dinge – Warum die Welt Frauen nicht passt“. Darin beschreibt sie, wie stark die Gesellschaft von patriarchalen Ideen geprägt ist. „Patriarchat“ bedeutet laut Duden „Gesellschaftsordnung, bei der der Mann eine bevorzugte Stellung in Staat und Familie innehat“. In der heutigen Gesellschaft bestehen weiterhin einige Strukturen, in denen es männliche Personen einfacher haben. Von ungleicher Bezahlung über zu Führungspositionen, in denen meistens Männer stehen, bis hin zu Ländern, in denen die Bildungsmöglichkeiten für Frauen stark eingeschränkt sind. Aber auch im normalen Alltag, in kleinen Situationen und Designs, zeigt sich die Bevorzugung des Mannes. Die Macht, die vor allem weiße Menschen, Reiche oder eben Männer in der Geschichte erlangt haben, habe auch heute noch Einfluss auf den Alltag, erklärt Rebekka Endler. „Der Mann ist das Maß aller Dinge. Wortwörtlich.“ In vielen Beispielen zeigt die Kölnerin, wie die Umwelt häufig von Männern für Männer designt ist.
Ich war schockiert, als ich mich daran erinnert habe, dass ich im Biologie-Unterricht nicht ein Wort von Rosalind Franklin gehört hatte, aber von den Männern, die stattdessen den Nobelpreis erhalten haben. (Den Ehrentitel hat James Watson vor drei Jahren übrigens wieder verloren, weil er rassistische Bemerkungen äußerte.) Wie oft kommt es wohl vor, dass es mir im Moment selbst gar nicht auffällt, dass etwas sexistisch oder patriarchal geprägt ist?
Rebekka Endler greift genau das auf. Sie schreibt über viele Themen, die im Alltag oft unbemerkt bleiben oder überhört werden. Zum Beispiel darüber, dass Sprache einen großen Einfluss auf das Denken hat. Wie wenig Denkmäler oder Straßen nach Frauen benannt sind. Dass seltener Schriftstellerinnen gelesen werden und die Werke von ihnen häufig nicht als Klassiker gelten. Einige andere Beispiele sind Folgende.
Taschen, Dinos und schusssichere Westen
Für Jungs gibt es Hosen mit großen Taschen, in denen sie Dinge sammeln können. Für Mädchen häufig Leggings ohne eine einzige Tasche. Das kennen wir sicher alle. Über die Farbzuordnungen Blau und Rosa für Geschlechter brauchen wir, glaube ich, nicht mehr sprechen. Oder doch? Ich war neugierig. Um einen kleinen Überblick zu bekommen, war ich auf ein, zwei allseits bekannten Onlineshops unterwegs. Es hat mich ganze 15 Sekunden gebraucht, um die immer noch gleichen Klischees vorgesetzt zu bekommen: Minnie-Maus, Glitzer und Herzen bei Mädchen-Shirts. Dinos, Games und Autos bei den Jungen. Für viele leider immer noch „normal“.
Pünktlich zur Bundestagswahl geht es um das Outfit von Annalena Baerbock, denn das scheint ja super wichtig, wenn die Frage im Raum steht, ob sie zur Bundeskanzlerin gewählt werden könnte. Aber wenn es nun darum geht, ob Polizistinnen ihre schusssicheren Westen auch genau passen, wird es auf einmal ernster. „Frauen sind keine kleineren Männer!“, schreibt Endler. „Cis weibliche Körper haben andere Proportionen, andere Schwerpunkte, und indem man alles einfach nur in einer kleineren Ausführung bereitstellt, werden Unterschiede in der Anatomie und in den praktischen Bedürfnissen missachtet.“
Wenn Krankheiten nicht ernstgenommen werden
Das patriarchale Design sei aber besonders relevant, wenn es um die Gesundheit gehe. Gefährlich könne es dann werden, wenn Symptome nicht ernst genommen werden. Diese können bei einem Herzinfarkt von Frauen nämlich ganz anders aussehen als die von männlichen Patienten, erklärt Rebekka Endler. Es müsse nicht immer den typisch stechenden Schmerz in der Brust geben. Starke Rückenschmerzen, Übelkeit oder ein Ziehen in den Armen können ebenfalls auf einen Herzinfarkt hindeuten. Symptome wie diese treten häufiger bei Frauen auf, werden aber selten mit einem Herzinfarkt in Verbindung gebracht und heruntergespielt, erklärt die Autorin. Ist die Medizin zu sehr auf männliche Körper als Norm konzentriert?
Und auch andere Krankheiten seien zu lange nicht erforscht worden. Darunter zum Beispiel Endometriose. Dabei treten „Zysten und Entzündungen auf, die sich z.B. an Eierstöcken, Darm oder Bauchfell ansiedeln“, beschreibt die Endometriose-Vereinigung Deutschland e.V. Sehr starke Menstruationsschmerzen können die Folge sein. Rebekka Endler erläutert, dass Menschen im Durchschnitt 10,6 Jahre leiden und drei Ärzt:innen aufsuchen müssen, bevor sie die richtige Diagnose bekommen. So lange dauert es, damit Symptome ernst genommen oder richtig gedeutet werden. Und das, obwohl die Krankheit die Hälfte der Bevölkerung potenziell betreffen könnte.
„Ich glaube, wenn wir es schaffen, auch jenseits von akademischen Diskursen und der eigenen progressiven Blase Gespräche über diese Mechanismen in Gang zu setzen, also Aufmerksamkeit auf diese Dinge zu lenken, gewinnen wir alle etwas.“
- Rebekka Endler
Über diese und viele weitere Themen schreibt Rebekka Endler in „Das Patriarchat der Dinge“. Leicht verständlich und klug beschreibt sie eigene Beobachtungen, benennt aber auch Fakten, nötiges Hintergrundwissen und führt Interviews. Und wer „Unsichtbare Frauen“ von Caroline Criado-Perez schon gelesen hat, lernt hier noch einmal eine alltäglichere, technischere, kulturellere Seite des Themas kennen. Endler zitiert Criado-Perez teilweise, liefert aber noch genügend neue Beispiele und Situationen, die die Leser:innen überraschen und sie den Kopf schütteln lassen. Selbst wer schon viel gelesen hat, findet hier bestimmt noch ein Design, das sie oder er noch nicht kannte. Für manche mögen es vielleicht zu viele Themen sein, die angesprochen werden, zu viele Sprünge. Ich habe durch die Abwechslung aber viel Neues gelernt.
Die Welt passt neben Frauen auch anderen Menschen nicht
Endler bedenkt ebenfalls Diskriminierung gegenüber nicht weißen Personen, Menschen mit Behinderungen und nicht-binären Menschen, also diejenigen, die sich nicht als männlich oder weiblich definieren. Ob ihr das immer perfekt gelingt, kann ich als nicht betroffene Person nicht ganz beurteilen, aber ich sehe die Mühe.
Als ich das Buch gekauft habe, hat mir der Buchhändler erzählt, dass er sehr begeistert von davon sei und er als Mann über so einige Dinge noch nie nachgedacht habe. Ich habe mich voll gefreut, das zu hören, weil Rebekka Endler damit vermutlich ihr Ziel erreicht hat. „Ich wünsche mir, dass dieses Buch dazu beiträgt, dass auch Sie patriarchales Design erkennen, und zwar als das, was es ist: unpassend“, appelliert die Autorin am Ende des Buches. Wir sollen weiterhin nerven, sagt die Autorin, wobei „nerven“ hier positiv gemeint ist. Wir sollen auf Dinge, die falsch laufen aufmerksam machen, Ungerechtigkeiten ansprechen und wütend sein, wenn wir nun mal wütend sind.
Rebekka Endler: Das Patriarchat der Dinge. Warum die Welt Frauen nicht passt (DUMONT Verlag, 336 Seiten, Taschenbuch 12euro, Hardcover 22euro) |
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Zum Weiterlesen:
- Infoseite zu unserem Feministischen Buchclub (Willst du mitmachen? Schau hier vorbei!)
- Zur Verlagsseite des Buchs "Das Patriarchat der Dinge" von Rebekka Endler (Dumont Verlag)
- Fluter Artikel zur Biochemikerin Rosalind Franklin: Eine Frau und ihr Foto
- PDF Essay: Der Matilda Effekt in der Wissenschaft von Margaret Rossiter
- Duden Seite zu "das Patriarchat"
- Spiegel Artikel: James Watson: Nobelpreistäger verliert Ehrentitel wegen rassistischer Äußerungen
- Spiegel Artikel: Spitzenduo Bärbock und Habeck - Deutsche Roxette
- Artikel der Herzstiftung: Herzinfarkt bei Frauen - Diese Symptome sollten Sie kennen.
- Edometriose-Vereinigung Deutschland e.V.: Was ist Endometriose?
Der Sans Mots Feminist Book Club: Der Buchclub, den wir selbst so dringend gebraucht hätten und auch jetzt noch dankend annehmen und füllen wollen. 🌿 Wer eine feministische Perspektive übersieht, kann die vorherrschende Politik, unsere Kultur, Dynamiken und Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft, Gewohnheiten in unserem Alltag und Kategorien in unserem Denken nie vollständig verstehen, davon sind wir überzeugt. Feminismus, das wissen wir längst, ist noch lange kein abgeschlossenes Projekt, gleichzeitig aber sehr oft missverstanden. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben aber gezeigt, dass es ganz notwendig ist, einen genauen Blick auf Geschlechterstrukturen und Ungerechtigkeiten zu werfen. Um Politik zu verstehen und Handeln zu verändern muss man aber vor allem: Verstehen. Das wollen wir mit euch gemeinsam. Zwischen Gewalt gegen Frauen, der Frage, ob es den Equal Pay Gap wirklich gibt bis hin zu feministischer Außenpolitik. Davon, ob wir uns Feminist:innen nennen müssen, um welche zu sein, von Sex, Sprechmacht und Altersarmut, von Weiblichkeit, von Männlichkeit, von Kategorien und Mutterschaft zu Slutshaming, Männerwelten und Hate Speech, Repräsentanz und Intersektionalität,. Wir sprechen über Autor:innen und ihre Werke, die uns ihre Geschichte erzählen oder erklären, was uns alle angeht: Geschlechtergerechtigkeit.
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Laura Quellenberg begeistert sich für Kultur, Medien und Literatur. Egal, ob Konzerte, Museen oder Theater. Egal, ob Klassiker oder Sachbuch. Alles verschafft ihr neue Ideen. Stift, Papier und mindestens zwei Bücher sind nie weit entfernt. Ihr Zuhause ist das Ruhrgebiet. Dort studiert Laura zurzeit Journalismus und Public Relations. Schon immer liest und schreibt sie gerne. Und seit Kurzem teilt sie diese Gedanken auch auf ihrem eigenen Blog. Bei Sans Mots beschäftigt sie sich mit Literatur zum Thema Feminismus.
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