Wie mich 2020 dazu gebracht hat, meine Privilegien zu hinterfragen und warum das Ganze so lange gedauert hat

2020 hat neue Dynamik in festgefahrene Debatten über Rassismus und Feminismus gebracht, dadurch aber auch die Fronten verhärtet. Der Kurzfil...


2020 hat neue Dynamik in festgefahrene Debatten über Rassismus und Feminismus gebracht, dadurch aber auch die Fronten verhärtet. Der Kurzfilm „Männerwelten“ in Deutschland und das Video der Ermordung von George Floyd kann man, in aller Tragik, die sie eingefangen haben, wohl berechtigt als mediale Paukenschläge bezeichnen, die viele Menschen auf die eine oder die andere Seite gestellt haben. Langsam aber sicher erodiert die „mittlere Position“ zwischen radikalen FeministInnen auf der einen und AdvokatInnen von Männerrechten auf der anderen Seite. Die Debatte um Rassismus hat sich nicht nur politisiert, sondern sich viel mehr von einer Frage nach Polizeigewalt und Diskriminierung zu einem erbitterten Kampf zwischen historisch benachteiligten Gruppen und der zum Teil empörten  Abwehrhaltung der Privilegierten   entwickelt. Der Dialog zwischen den Lagern wird immer schwieriger, aber auch immer wichtiger, wie ich versuchen will mit meiner Perspektive zu zeigen.
Meinem eigenen Empfinden und dem biologischen Geschlecht nach bin ich männlich. Außerdem bin ich Weiß. Die Spitze der Nahrungskette also,wenn man nach sozialen Privilegien geht. Wäre ich ein wenig rationalistischer gäbe es keinen Grund, meine komfortable Position zu überdenken oder mein bisheriges Weltbild in Frage zu stellen. Trotzdem wurde es innerhalb von einem Jahr vollständig auf den Kopf gestellt.

In diesem Artikel möchte ich erläutern, was mich aus meiner Komfortzone gelockt hat und warum ich mich heute als Feminist identifiziere und Antirassismus als Verantwortung der Weißen sehe. Vielleicht gelingt mir der Dreisatz aus persönlichen Erfahrungen, empirischer Reflexion und Perspektivenwechsel und ich kann den Einen oder die Andere mit meiner Reise, an deren Ende ich mich immer noch nicht sehe, ansprechen und erläutern, dass unser Weltbild und auch die alltägliche Meinungen kein Zufall sind. Rassismus und Feminismus zwei Themen, die in der Frage nach Gerechtigkeit nicht allein stehen. Mir haben sie aber den Weg zu einer anderen Auseinandersetzung mit meinem Verständnis von Gerechtigkeit geebnet, weshalb ich sie für diesen Artikel aufgreife.

Es war einmal...

2018 und innerhalb einer Studierendenvertretung habe ich nicht unerhebliche Entscheidungsgewalt über die Frage, ob wir uns für die geschlechtergerechte Umbenennung einer Lehreinrichtung einsetzen sollten. Ich lasse die Frage lange im Plenum diskutieren, klammere mich aber irgendwie an den Gegenwind.

Die Worte „Sexismus“ und „Patriarchat“ sind noch zu radikal für meinen Wortschatz. In der Situation argumentiere ich häufig, dass es wichtigere Themen gibt.

Dabei bin ich doch in Soziologie eingeschrieben, erlerne einen wissenschaftlichen Blick auf die Gesellschaft. Mein Professor gibt uns aber eine Auswahl ausschließlich männlicher „Klassiker“ an die Hand, die ich begierig studiere, bevor ich jemals bereit bin,  den FeministInnen Gehör zuschenken. Gegenüber einer guten Freundin lasse ich einmal in einer Diskussion den Satz fallen „Mann und Frau sind doch gleichberechtigt.“ Long Story Short: Gleichberechtigung war schön und gut, aber ich sah keinen Grund mich daran zu beteiligen.

Seit der Schulzeit glaubte ich zutiefst daran, ein antirassistischer Mensch zu sein. Doch auch meine starke Ablehnung der Vorurteile, die MigrantInnen entgegengebracht werden, hatte etwas Exklusives. Ich glaubte nämlich fest daran, dass Rassismus eine bewusste Handlung böswilliger Menschen ist und ich rassistischem Denken oder Handeln nicht fähig sei. Ich setze mich doch für Asylanten ein, habe Schwarze Freunde.

„Happyland“, nennt Tupoka Ogette diesen Zustand in ihrem mittlerweile sehr populär gewordenen Buch „Exit Racism“. Bequemes Unwissen. Rassisten können nur die Anderen sein, nicht ich. Auf den Hinweis, dass Rassismus institutionalisiert sein könne und es ein Privileg gibt, dass ich als Weißer Mann besitze, hätte ich damals mit Sicherheit sehr empfindlich und abwehrend reagiert. Ich glaubte einfach fest daran, Rassismus zu verstehen, ohne jemals die Perspektive von Betroffenen gehört oder gelesen zuhaben. Jeder Text, den ich in meiner schulischen und akademischen Laufbahn las, wurde von Weißen verfasst. Die einzige Ausnahme war die Amtseinführungsrede Barack Obamas.

Kleiner Exkurs: Gregor Sieböck ist zu Fuß um die Welt gelaufen. Was hat ihn dazu bewogen, seinen Job bei der Weltbank aufzugeben, um das zutun? „Ich bin immer nur eine Begegnung von einem anderen Leben entfernt“, sagt er. Für mich kommt diese Begegnung im Sommer 2019. Meine Partnerin, die mir erste Anreize gibt, meine komfortable Weltsicht zu überdenken.

Die Pandemie spielt dabei ebenfalls keine unerhebliche Rolle. Historiker sehen im Verlauf der Geschichte immer wieder Epochenjahre wie 1917 oder 1989. Ich halte 2020 für eines dieser Jahre. Nicht, weil es wie die zwei genannten Beispiele signifikante politische Umwälzungen mit sich bringt, sondern weil es durch das Coronavirus und die einhergehende Unsicherheit der Menschen gegenüber den bisher ungesehenen Herausforderungen und Maßnahmen auch die Lupe auf gesellschaftliche Probleme wirft,die vorher im Alltag besser verborgen waren: Wenn die ganze Welt auf neue Entwicklungen wartet, sehen auch alle hin.


Männerwelten

Für mich fängt das Hinsehen im Mai an. Am 13. des Monats geht das Video„Männerwelten“ viral. Der Hintergrund: Joko und Klaas lassen zur Primetime im deutschen Fernsehen einen 15-minütigen Film ausstrahlen, in dem Journalistinnen, Models und andere Frauen des öffentlichen Lebens wie Sophia Passmann, Palina Rojinski und Stefanie Giesinger über Sexismus und sexualisierte Gewalt berichten. Sie sind bei Weitem nicht die Ersten, die diese Themen ansprechen, aber „Männerwelten“ erreicht ein sehr breites Publikum und hält mir als Mann den Spiegel vor. Ich sehe es auf Instagram, wo ich es später auch teile. Ich frage mich lange, ob ich das Recht dazu hätte die Botschaft der Frauen zu verbreiten. Nicht, weil ich ein Mann bin, sondern weil ich lange Teil dieser Männerwelten war. Gesellige Männerrunden, in denen objektivierende Sprüche über Frauen zum Besten gegeben werden – „nette Komplimente“, wie man sie abwehrend genannt hätte. Wie demütigend und entwürdigend das für Frauen ist, wird mir leider erst durch „Männerwelten“ bewusst. Es ist ein Zäsur in meinem Umgang mit „Locker Room Talk“, den viele Männer immer noch als harmlos ansehen, als seien die Worte nur Schall und Rauch und würden Frauen nicht zu bloßen Gegenständen der sexuellen Betrachtung machen.


Die Frauen in „Männerwelten“ zeigen sich nicht als Opfer.

Sie sind wütend.

Zum ersten Mal lasse ich mich von dieser Wut nicht abschrecken, weil ich sie als Mann nicht fühlen kann, sondern versuche die Gründe zu verstehen.


Meiner Partnerin habe ich in dieser Zeit eine sehr gute Buchempfehlung zu verdanken: Soraya Chemalys „Speak Out. Die Kraft weiblicher Wut“. Es ist lange ein merkwürdiges und leicht befremdliches Gefühl, dieses Buch aus der Sicht einer Frau zu lesen, die über Schwangerschaften, Verhütungsmittel und Menstruationsprodukte schreibt. Nur langsam finde ich mich in die Perspektive ein. Doch das ist letztlich der Kern der Sache:

Indem ich reflektiere, wie überwältigend viel Literatur insbesondere in meiner Bildung aus männlicher Perspektive verfasst wurde, kann ich mir erst bewusst machen, warum es so schwierig war die Perspektive zu wechseln: Als Mann hatte ich es bisher nie nötig.

Die Autoren der Klassiker, die wir in der Schule gelesen haben, die Theoretiker in der Universität, der überwiegende Teil der ProfessorInnen, die Geschäftsführer der Unternehmen, in denen ich nebenher etwas Geld verdiene, sie haben alle etwas gemeinsam: Ihr Geschlecht. Man muss sich nicht sexueller Gewalt schuldig gemacht haben, um Teil der Männerwelt zu sein,man muss nicht einmal Mann sein. Über dieses Thema gerate ich mit einigen Leuten in meinem Umfeld in hitzige Diskussionen. Es ginge im Beruf doch um Qualifikation und nicht um das Geschlecht, höre ich häufig. Dieses Argument ist nichts als die Apologie einer sich ständig selbst reproduzierenden männlichen Herrschaft. Um es in einem kleinen Gedankenspiel zusammenzufassen: Du siehst dir 3000 Jahre lang dasselbe Schauspiel an und es stehen immer nur Männer auf der Bühne. Deine Gewohnheit an die Rollenbesetzung hat zur Folge, dass du automatisch Männern eher die Kompetenz zuschreibst, auf der Bühne zu stehen.

Man darf sich aber ruhig trauen, einen Blick in die Regie zu werfen. Die weiblichen Schriftstellerinnen, Theoretikerinnen und Anführerinnen waren immer schon da. Virginia Woolf, Emily Bronte, Hannah Arendt, Simone de Beauvoir verdienen ihren Teil der Anerkennung, den ihre männlichen Kollegen bisher beansprucht haben. Die Gegenwart macht mit kleinen Schritten in Richtung Gleichberechtigung Hoffnung. Mit Kamala Harris bekleidet erstmals eine Frau das Amt der Vizepräsidentin der USA, Finnland wird von einem weiblich dominierten Kabinett regiert und selbst Angela Merkel hat 2020 eine Frauenquote in Konzernen forciert.

Leaving Happyland

Nicht einmal zwei Wochen nach Männerwelten geht der Ausspruch „I can’t breathe“ um die Welt. Es sind George Floyds Worte, mit denen er den Polizeibeamten insgesamt dreißig Mal bittet, das Knie von seinem Genick zunehmen. Ausschnitte des Videos verbreiten sich schneller im Internet, als Instagram und Facebook den Inhalt als sensibel einstufen können. Dieser Inhalt   zeigt   nichts   geringeres,   als   den   Mord  eines   Schwarzen   Mannes durch einen Weißen Polizeibeamten, während drei seiner Weißen Kollegen zusahen. Das Knie des Polizisten blieb noch lange, nachdem Floyd das Bewusstsein verloren hatte, auf dessen Genick. Nach Zeugenaussagen hatte er sich nicht gegen die Festnahme gewehrt. Unmittelbar nach seinem Tod verbreiten sich Behauptungen, er sei an einem Herzleiden oder COVID-19 verstorben. Zwei unabhängig voneinander durchgeführte Autopsien stellten aber den Tod durch die Gewalteinwirkung des Polizisten fest.

Und das ist auch der einzige Grund ist, warum ich meine Erkenntnisse als Weißer in den Wochen nach Floyds Tod für teilenswert halte. Ich würde auch gerne sagen, dass ich mir dieser Verantwortung schnell bewusst bin, aber ich verbringe erst einmal viel Zeit damit, meine eigene Wut und Betroffenheit über den Mord in den Vordergrund zu stellen.
Sicherlich lösen die Bilder selbst beim konservativsten Beobachtenden Anteilnahme   aus,   aber   die  Nachrichten   von   Unruhen,   Plünderungen   und Denkmälern die attackiert werden, schaffen schnell wieder klare Fronten. Die eine Seite klammert sich empört an den Erhalt einer Gesellschaft, die auf Ausbeutung und Diskriminierung aufgebaut wurde, während die andere die Aufarbeitung mit historischen Verantwortlichen selbst in die Hand nimmt. Ein Beispiel dafür ist Bristol, wo die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston von Demonstrierenden in den Hafen geworfen und durcheine Statue der Black Lives Matter Demonstrantin Jen Reid ersetzt wird.

Ich lese mich in das Thema ein und erkenne, dass das häufigste Problem der Weißen die fehlende Anerkennung der Verankerung von Rassismus in unserer Gesellschaft ist. Es ergibt völlig Sinn, das Ogette das Wort „Dekonstruktion“ gewählt hat. Rassismus ist ein Gebäude, dessen Fundament lange vor unserer Geburt gelegt wurde. Die Kolonisation und die mangelnde Aufarbeitung des Kolonialismus, haben unsichtbare Wände aufgeschichtet,die für Menschen ohne eigene Rassismuserfahrungen sehr schwer zu sehen sind.


Was ich früher als Rassismus begriff, ist höchstens die Spitze des Dachgiebels. 


Schwarze sind keine Fremden, sondern machen erhebliche Teile unserer Gesellschaft aus. Erkennt die Weiße Mehrheitsgesellschaft, zu der auch ich gehöre, das Recht der Nicht-Weißen auf Mitsprache an?

Nach Daten des Statistischen Bundesamtes haben im Jahr 2019 26% der Bevölkerung Deutschlands einen Migrationshintergrund. Das entspricht etwa 21 Millionen Menschen. Der Definition des Bundesamtes für Migration und Flucht hat eine Person einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren ist. Deshalb besitzen auch nach Daten der bpb 13,6 Mio. der Menschen mit Migrationshintergrund die deutsche Staatsbürgerschaft. Viele dieser Menschen, die mittlerweile ein Viertel der deutschen Bevölkerung ausmachen, haben eine andere Hautfarbe als die weiße Mehrheitsgesellschaft. Sie werden von nicht einmal einem Zehntel des Bundestages repräsentiert (8% der Abgeordneten).

Viele kommen nicht einmal umhin, eine Person Nicht-Weißer Hautfarbe zu fragen woher sie denn komme. Dieses Konzept nennt sich „Othering“. Es beschreibt die Distanzierung einer anderen Gruppe von der Eigengruppe, weil diese nicht das soziale Bild der Eigengruppe erfüllt. Leider ist die Hautfarbe immer noch der Hauptfaktor, nach dem die Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft bestimmt wird. Diese Frage ist nicht höflich oder neugierig, sondern rassistisch. Ihr liegt das Denken zugrunde, dass jemand der oder die nicht Weiß ist, auch nicht aus Deutschland kommen kann.

Warum musste erst jemand wie George Floyd, dem etliche andere Opfer im kürzeren Zeitraum vorangingen und folgten, sterben, damit jemand wie ich sein Privileg begreift und sein Weltbild überdenkt? Weil wir es nicht für nötig halten, Menschen Nicht-Weißer Hautfarbe in unserer Gesellschaft adäquat zu repräsentieren. Weder in politischen Entscheidungsposition, noch in Bildung, noch in der Öffentlichkeit. Die Statue der Schwarzen Demonstrantin Jen Reid ersetzte das Denkmal eines Mannes, der als Symbol der Versklavung für Schwarze Menschen 125 Jahre im Herzen Bristols stand.Seit den 1990ern wurde auf demokratischem Wege versucht, die Statue mit mehr Informationen zu Colstons Rolle in der Sklaverei zu versehen,was nie erfolgte. Das Standbild Reids hingegen, wurde innerhalb weniger Tage aus perfiden juristischen Gründen entfernt.


Was hat sich verändert?

Auch wenn ich ihn vorher nie gesucht hatte, stand der Dialog mir immer offen. Menschen in meinem Umfeld, die genau wussten wo die Probleme meines Weltbildes lagen und warum ich nicht bereit war, mich mehr für Gerechtigkeitsthemen einzusetzen, verurteilten mich nicht, sondern blieben geduldig mit mir, bis ich bereit war, mich näher mit diesem Thema auseinanderzusetzen.

Ich finde es erschreckend und tragisch, dass tatsächliche Opfer von Diskriminierung so quasi darauf warten mussten, bis ich als Weißer Mann bereit war, meine Perspektive zu hinterfragen. 

Aber ich wurde nie Opfer der „Cancel Culture“ und sah mich einer ideologischen Bubble gegenüber, die sich mir verschließt. So konnten drei Weichenstellungen in meinem Denken umgelegt werden, die mir ermöglicht haben, mein Weltbild grundlegend zu verändern.


1. Es geht nicht mehr um mich:

Ich glaubte mit ziemlicher Sicherheit,Dinge zu wissen. Meine Erziehung hatte mich mit einer gewissen Arroganz ausgestattet, da ich durch eine sehr gute Bildung und ein wenig Weltgewandtheit der Ansicht war, die Welt zu verstehen. Ich besaß eine privilegierte Distanz zu sozialen Debatten. Das hatte einen einfachen Ich-Hintergrund. Ich muss keine Angst haben, aufgrund einer Schwangerschaft meinen Beruf zu verlieren. Ich muss mir keine Sorgen darüber machen, dass Entscheidungen zu meinen Ungunsten getroffen werden, weil mein Geschlecht in Schlüsselpositionen unterrepräsentiert ist. Zuletzt muss ich keine Angst haben bei Bewerbungen abgelehnt zu werden, weil mein Nachname nicht deutsch klingt oder gar wegen meiner Hautfarbe mit höherer Wahrscheinlichkeit bei einem Polizeieinsatz getötet zu werden. Das Einzige was ich musste, war mich darauf einzulassen, dass ich nichts wusste. Nur so konnte ich zuhören.

2. Zuhören statt Reden: 

Ich hatte vorher den Fehler gemacht, meine Meinung aus meinem eigenen Weltbild herzuleiten. Jetzt, wo ich mich darauf eingelassen hatte nichts zu wissen, konnte ich erst den Menschen zuhören, die tatsächlich unter Rassismus und Geschlechterungerechtigkeit zu leiden hatten. Feministische und rassismuskritische Literatur und Forschung haben aus politischen Gründen keinen leichten Stand. Dabei sind es zwei Themenfelder, deren Erforschung stetig wächst. Allein 2020 wurden großartige Bücher geschrieben,  das   bereits  erwähnte  „Speak Out“  und  „Sprache  und Sein“ von Kübra Gümüsay seien hier als zwei Beispiele genannt. Die Erforschung der Diskriminierung ist nicht radikal, sie ist Wissenschaft geworden. Sie muss nur noch mehr gelehrt werden.

3. Reflektion:

Mein Weltbild hat sich zwangsläufig verändert. Das war kein einfacher Prozess, denn letztlich hatte es mir einen gewissen Halt gegeben, den ich verlor. Hin und hergerissen zwischen Welt-schmerz und Scham in der eigenen Haut sah ich aber erst die Optionen, die ich hatte. Ich konnte dabei helfen, Schwarzen und Frauen durch mich eine größere Reichweite zu geben. In Zeiten von Social Media ein Leichtes, egal wie bescheiden die Follower-Anzahl. Selbst ein winziger Stein schlägt weite Wellen in einem großen See.  Zu  meiner  Überraschung begannen  Weiße,  männliche   und  zuvor apolitische Bekannte und Freunde via Social Media, die Black Lives Matter-Bewegung zu unterstützen oder die feministischen Botschaften aus Männerwelten in ihrem Umkreis zu verbreiten. Man mag das als „en-vogue Aktivismus“ verurteilen, aber ich halte jede Präsenz der Debatten für großartig, auch wenn es natürlich stärkere Formender Unterstützung gibt.


Präsenz ist letztlich eine der Säulen von Machtstrukturen. Dass ich in diesem Jahr begonnen habe, mich mit Feminismus und Rassismus auseinanderzusetzen, ist medialer Präsenz, glücklichen Begegnungen und Charakterentwicklung zu verdanken. Es sollte aber Teil der Erziehung sein.


Stattdessen herrscht in der neoliberalen Gesellschaft das Mantra vor, das jeder seines eigenen Glückes Schmied sei. Eine These, die der empirischen Untersuchung nicht standhält. Man muss schon zu äußerst abstrakten und im Endeffekt fadenscheinigen Herleitungen greifen, um einem Weißen Mann die gleichen gesellschaftlichen Nachteile anzudichten, wie einer Schwarzen Frau. Wenn wir in Schulen so gerne den Blick in die Vergangenheit werfen und uns mit der Shakespearischen Gesellschaft, dem Sturm und Drang und dem Homo Oeconomicus befassen, lohnt auch ein Blick in das, was uns Autoren wie Tupoka Ogette oder Kübra Gümüsay für die Gegenwart mitgeben.

In der Schulzeit habe ich Sozialwissenschaften geliebt, weshalb ich mich später für dieses Fach an der Universität einschrieb. Heute weiß ich, dass die Soziologie zumindest bei mir und den hunderten Anderen, die Klassenräume, Hörsäle und Zoom-Konferenzen mit mir teilten, ihr Ziel verfehlt hat.

Der eigentliche Nutzen der Soziologie sollte nicht darin bestehen,ihren SchülerInnen allein die verstaubten Theorien längst verstorbener Weißer Männer zu vermitteln. Sie hat die Fähigkeit zu erklären,wie gesellschaftliche Machtstrukturen von Menschen erschaffen wurden,   um   manche   Gruppen   nach   Standards   wie   Hautfarbe,   Geschlecht oder Religion zu bevorteilen. Der Soziologe Niklas Luhmann könnte diese Erschaffung und Selbsterhaltung eines Systems zwar als „Autopoiesis“ erklären, BIPOC, feministische und queere AutorInnen haben hingegen Wege gefunden sie auf die Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft anzuwenden und zu dekonstruieren. Wenn sie mehr Anerkennung im Kanon der Sozialwissenschaften fänden,gäbe es mehr FeministInnen und Antirassisten. 


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Simon Peters hat Politikwissenschaften, Soziologie und Geschichte in Bonn studiert und sich in diesem Rahmen auf Internationale Beziehungen spezialisiert. Aktuell arbeitet er dort bei einem vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ins Leben gerufenem Service für Entwicklungsinitiativen. Er schätzt den gesellschaftlichen Diskurs, begeistert sich für Sprachen und kann sehr ausdauernd über Dinge aller Art nachgrübeln. Besonders am Herzen liegen ihm Themen der sozialen und ökologischen Gerechtigkeit. Gerne mag er laute und leise, fröhliche und traurige Musik und kann für Stunden am Stück ohne Bedenken in einem Bücherladen abgesetzt werden. Auf Sans Mots schreibt er über Literatur, Musik und versucht sein Bestes, individuelle Geschichten und (sozial)wissenschaftliche Themen in einen Kontext zu setzen. 




Zum Weiterlesen:

Soraya Chemaly: Speak Out. Die Kraft weiblicher Wut, Berlin 2020.
Kübra Gümüsay: Sprache und Sein, München 2020.
Tupoka Ogette: Exit Racism, Münster 2019.
Adam Hochschild: Bury The Chains, New York 2006.#Say Their Names. URL: https://sayevery.name/
Männerwelten (Pro7 Mediathek). URL: https://www.prosieben.-de/tv/joko-klaas-gegen-prosieben/video/32-maennerwelten-jo-ko-klaas-15-minuten-clip.
Glossar des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. URL:https://www.bamf.de/DE/Service/ServiceCenter/Glossar/_func-tions/glossar.html?nn=282918&cms_lv3=294952&cms_lv2=282966
Bundeszentrale für politische Bildung: Bevölkerung mit Migrati-onshintergrund   (20.9.2020).  URL:  https://www.bpb.de/nach-schlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61646/migrationshintergrund-i
Deutsche Welle: Autopsiebericht zu George Floyd bestätigt Toddurch   Polizeigewalt   (01.06.2020).  URL:  https://www.dw.com/de/autopsiebericht-zu-george-floyd-best%C3%A4tigt-tod-durch-polizeigewalt/a-53652289.
Frankfurter Rundschau: Sklavenhändler-Statue durch Skulpturvon Black-Lives-Matter Aktivistin ersetzt und gleich wieder ent-fernt   (16.07.2020).   URL:   https://www.fr.de/politik/sklaven-haendler-statue-skulptur-black-lives-matter-aktivistin-bristol-jen-reid-grossbritannien-90010008.html.
Süddeutsche   Zeitung:   Merkel   forciert   Frauenquote(06.07.2020).   URL:   https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/bundesregierung-frauenquote-vorstand-1.4958233

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1 x

  1. Der Autor sagt, der Hinweis auf Qualifikation sei eine Apologie zur Reproduktion männlicher Herrschaft. Nun macht die Gesellschaft ja das Versprechen, blind gegenüber persönlichen Merkmalen zu sein - manifestiert bspw. im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Trotzdem hat sie das Versprechen nicht immer überall gehalten. Frage: Ist die fehlende Erfüllung dieses Versprechens das zentrale Problem oder das Ziel der ausschließlich persönlichen Betrachtung ("... content of their character ...") an sich?

    Außerdem kurzer Verweis darauf, dass ich Bezugnahme auf Autorinnen und Autoren mit teils reaktionärer Praxis (eliminatorischer Antizionismus bei Butler, Kontakte Gümüsays zur türkischen Rechtsradikalen) problematisch finde.

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