UND SONST SO? | Vom Wesen der Beständigkeit

Es muss circa 2014 gewesen sein, als das Wort „Urlaub“ plötzlich uncool und das Wort „Reisen“ cool wurde. Sämtliche post Abitur-Millenials, ...


Es muss circa 2014 gewesen sein, als das Wort „Urlaub“ plötzlich uncool und das Wort „Reisen“ cool wurde. Sämtliche post Abitur-Millenials, deren Sommerferien vor wenigen Jahren noch daran gemessen wurden, wie gut man auf dem Schulhof mit ihnen angeben konnte, kauften sich plötzlich multifunktionelle Rucksäcke mit 150 Liter Fassungsvermögen. Von Patagonia oder The North Face versteht sich, man muss ja nicht gleich übertreiben mit der Bodenständigkeit. Auf einmal reiste man sechs Wochen lang durch Südost-Asien und erfand für das Phänomen, ständig klebrig und verschwitzt mit der neuen GoPro-Kamera durch irgendeinen Dschungel zu laufen, das Wort „backpacking“.


Es muss auch circa 2014 gewesen sein, als es mir peinlich wurde, Jahr für Jahr das wiederkehrende Bedürfnis zu haben, nach Fuerteventura zu fliegen. Und diesem Bedürfnis nachzugeben.


Freunde, Bekannte, Kollegen, alle fragten wenn es auf die Urlaubszeit zuging „Ach, schon wieder? Wird dir das nicht langweilig?“. Nein, wird es mir nicht, wobei die Vermeidung von Langeweile auch nicht mein primäres Ziel ist, wenn ich Urlaub mache. 

Zu beschränkt, zu langweilig, zu traditionalistisch erschien die Rückkehr an ein und denselben Urlaubsort in einer Generation von Weltreisenden, die ununterbrochen davon berichten, wie wahnsinnig horizonterweiternd und lebensverändernd das Gespräch in der balinesischen Garküche, von der sie im Lonely Planet-Reiseführer gelesen hatten, für sie war. Und dass es jetzt aber auch gut sei, Bali kennen sie ja jetzt, nächsten Monat steht Panama an, und außerdem hatte man ins Tinder-Profil ja auch „I haven’t been everywhere, but it’s on my list“ geschrieben. Ein paar Jahre habe ich der Fremdzuschreibung der Urlaubslangweilerin geglaubt, habe ich mit der inneren Stimme, die mich stets auf diese Insel zurückgerufen hat, gekämpft. Sie hat immer gewonnen, und ich bin froh, dass wir heute nicht mehr kämpfen. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, dass es nicht, wie häufig unterschwellig kolportiert, eine Korrelation zwischen der Zahl bereister Ziele und der geistigen Offenheit und Weltgewandtheit gibt. Ich musste 26 werden um zu verstehen, dass die Rückkehr an bekannte Orte im Endeffekt nichts anderes ist als eine Form von Beständigkeit. Und mehr noch: dass Beständigkeit ein Wert ist, den ich in meinem Leben schätze.


Fuerteventura ist keine Insel, die es einem leicht macht, sie zu lieben. Wo Kargheit sonst eine heftige Vokabel sein mag, erscheint sie hier bei beinahe vollständiger Abwesenheit jedweder Vegetation als Untertreibung. Kilometer lang nichts als Geröll, Vulkangestein. Schmale Straßen mäandern sich ihren Weg durch die Wüstenlandschaft, der Wind peitscht unaufhörlich. Für mich war und ist diese Rohheit, dieses Gegengewicht zu jeder Form der Lautstärke, des Aufdringlichen immer die größtmögliche Entspannung.



Meine Geschichte mit Fuerteventura muss gegen 1998 beginnen, vierjährig setze ich zum ersten Mal einen Fuß auf diese Insel, nichtsahnend von dem, was sie mir einmal bedeuten wird. Heute sitze ich mit 26 auf einem Felsen an der Westküste, stumm sehe ich über Minuten dabei zu wie der Atlantik wieder und wieder gegen die Steinformationen im Wasser schlägt, wie die Wellen zerbersten, das Wasser aufstiebt. Ich saß hier mit 14, unsterblich verliebt in irgendeinen Surflehrer und sicher, dass es für immer so bleiben würde. Ich saß hier mit 18, zweifelnd, ob der Weg vor mir der für mich geeignete ist. Ich saß hier mit 23, wenige Monate nach dem plötzlichen Unfalltod meines Großvaters und konnte das erste Mal wieder atmen. Diese Insel hat alles von mir gesehen, jede Emotion, jede Sorge, jede Freude. Es ist das scheinbar Unveränderte, das Bekannte, das Vertraute, die Beständigkeit, in der ich mir selbst begegne. Und die mich begreifen lässt, was sich verändert hat.


Es ist ein merkwürdiges Gefühl, an einen vertrauten Ort zurückzukehren, zu verstehen, dass er exakt genau so aussieht wie vor einem Jahr, wie vor fünf, vor zehn Jahren, die eigene Wahrnehmung aber eine vollkommen andere ist. Nichts hat mir meine eigene Entwicklung und die Unterschiede, manchmal auch die Gegensätze zwischen meinem Heute und meinem Gestern deutlicher vor Augen geführt als die Rückkehr an diesen Ort. Keine Reiseliste, die es abzuhaken gilt, hätte mir das jemals gezeigt. 


Mit 26 sitze ich immer noch nicht in einer balinesischen Garküche, sondern wieder auf diesem Felsen, mit genau so vielen, vielleicht mehr, aber anderen Fragen als noch vor zwei Jahren. Vielleicht ist es das, was konservativ sein für mich bedeutet: An Werten, die das eigene Leben bereichern, festhalten, ihnen Jahr für Jahr, Tag für Tag mit einer anderen Perspektive zu begegnen und den Umgang damit an den neuen Erfahrungsstand anzupassen. Es ist ein Gegenentwurf zu einer Kultur des Abhakens, des Weiterswipens. Es ist die bewusste Entscheidung für etwas, das einem am Herzen liegt, ungeachtet dessen, ob es etwas besseres geben oder man etwas verpassen könnte. Die Chance und die Schönheit in dieser Beständigkeit ist jedes Mal eine andere. Sie ist kein Gegensatz und kein Widerspruch dazu, Neues zu entdecken, andere Ort zu sehen. Sie mag sich weniger gut im Social Media-Feed machen; trotzdem, vielleicht auch deswegen, ist sie mir ein Wert. 



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Carolin Jacobi ist 28 Jahre alt und lebt in Köln und ist seit 2021 Teil des Teams von Sans Mots. Neben Fuerteventura und Ferdinand von Schirach liebt Jacobi Sprache, Popkultur und feine Dinge und schreibt seit ihrer frühen Kindheit. Sie interessiert sich für Fragen des gesellschaftspolitischen Tagesgeschehens, Formen der menschlichen Begegnung und möglichst simple Memes. Auf Sans Mots schreibt sie die Kolumne „Und sonst so?“ über die großen Fragen in den kleinen Dingen unseres Zusammenlebens.







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