UND SONST SO? | Von Rücksicht im Kleinen

Bei uns im Haus gibt es ein Müllproblem. Schon seit einiger Zeit, die Tonnen laufen ständig über. Ein Mehrfamilienhaus in der nördlichen Köl...

Bei uns im Haus gibt es ein Müllproblem. Schon seit einiger Zeit, die Tonnen laufen ständig über. Ein Mehrfamilienhaus in der nördlichen Kölner Altstadt, acht Wohnparteien und, sollte man meinen, ausreichend Mülltonnen.

Es ist Samstag Vormittag, ich habe lange geschlafen und in Ruhe gefrühstückt und bringe den Müll runter, der sich über die Woche angesammelt hat. Eine kleinere Menge Altpapier in der linken, einen Müllbeutel mit Verpackungsabfällen in der anderen Hand betrete ich unseren Innenhof. Damit habe ich keine Hand mehr frei, um eine Tonne zu öffnen. Muss ich aber auch nicht, die Papiertonnen stehen offen. Ach, praktisch, denke ich. Ach, praktisch, dachten sich aber offenbar auch meine Nachbarn, als sie ihre circa elefantengroßen Versandkartons unzerkleinert in die Altpapiertonne geworfen haben. Nun sind die Tonnen voll, hälftig mit Luft, weil sich vier intakte Kartons in ihnen stapeln, zu gehen sie auch nicht mehr. Ich ziehe weiter zur gelben Tonne, die ist zu, immerhin, aber nicht weniger voll. Ein leerer Farbeimer, benutzte Farbrollen, Glühbirnen, Abdeckplane – Relikte einer frühwochenendlichen Renovierungsaktion, die ihren Bestimmungsort eigentlich auf einem Recyclinghof finden sollten, gemeinschaftlich entsorgt in einer gelben Tonne in der Kölner Altstadt. Der urbane Mensch ist angestrengt. Zu kostbar sind die fünf Minuten Lebenszeit, die das Zerkleinern der Kartons in Anspruch nehmen, damit die anderen Bewohner des Hauses ebenfalls ihren Müll entsorgen können. Zu anstrengend ist der Weg zum Recyclinghof durch die halbe Stadt um den produzierten Müll richtig zu entsorgen. Wem soll ich mich auch verpflichtet fühlen, auf wenn soll ich schon Rücksicht nehmen, ich kenne die Menschen, die mit mir unter einem Dach leben ja gar nicht.


Ich trete also den Rückweg in meine Wohnung an ohne meinen Müll losgeworden zu sein. Auf der Treppe nach oben frage ich mich, woher mein Ärger eigentlich rührt. Was auf den ersten Blick wirken mag wie ein Auswuchs überdeutscher Spießbürgerlichkeit, ist im Kern etwas anderes. Es ist nicht der Ärger über sorglos befüllte Mülltonnen, es ist der Ärger über die damit verbundene Rücksichtslosigkeit. Die nicht zerkleinerten Kartons mögen vordergründig sagen „Mir ist meine Lebenszeit zu schade und das Cuttermesser finde ich auch nicht“, vor allem aber implizieren sie „Wo du dein Altpapier entsorgst, ist mir doch egal“.

Haben wir verlernt, Rücksicht zu üben?

Interessant wird es beim Blick in die Mülltonne. Dort finden sich die klimaneutral produzierte Verpackung eines Tofuschnitzels, die aus Recyclingpapier hergestellten Boxen von mikroplastikfreiem Waschmittel, die Versandkartons eines Herstellers fair und umweltschonend produzierter Jeans. Wir scheinen uns der Auswirkungen unseres Handelns und unseres Konsums auf Umwelt und Mensch bewusst zu sein, wir richten unsere Kaufentscheidungen danach aus, plötzlich ist unser Müll nicht einfach bloß Müll, sondern das Überbleibsel unseres politischen Bewusstseins. Wir scheinen Rücksicht üben zu können – bloß eben nur im Großen.


Wir geben gerne das Dreifache für ein Produkt aus, nehmen den Kilometer Umweg zum Unverpackt-Laden auf uns statt zum Supermarkt um die Ecke zu gehen, kein Problem, wir sind ja Teil eines größeren Ganzen. Dass wir auch Teil eines kleineren Ganzen sind, scheinen wir dabei vergessen zu haben. Rücksicht klappt, aber eben nicht im Kleinen.


Ich stehe im Supermarkt im Frühstücksgang, auf der Suche nach Himbeermarmelade. An die Marmeladen grenzt eine ganze Batterie pflanzlicher Milchalternativen, Hafer, Reis, Kokos, Mandel, Dinkel, Erbse, es ist erstaunlich. Mein Studium der Fruchtaufstriche findet ein jähes Ende, als eine Dame mir ihren Einkaufswagen in die Hacken rammt und sich energisch zur Hafermilch vorkämpft. Drei Tetrapaks, die teure Marke, klimaneutral und in Europa schonend angebauter Hafer. Prima, denke ich, die Kühe leiden nicht, prima, kein CO2, prima, keine Monokultur. Schade, denke ich, meine Hacken.

Es ist als ob wir beim Blick auf‘s Weltgeschehen die Menschen in nächster Nähe aus den Augen verloren hätten. Die alten handlungsleitenden Sätze, immer bei sich selbst anzufangen und alles vom Kleinen ins Große zu verändern, mögen im Kern nicht falsch sein. Aber sie können den Gegebenheiten einer globalisierten und vernetzten Welt nur bedingt standhalten. Die Handelsketten, die uns mit den Gegenständen unseres Alltags versorgen, umspannen den Globus, ebenso wie die Finanzströme, die wir nutzen und die Medien, die wir konsumieren. Damit verantwortungsbewusst umzugehen, ist richtig und wichtig und ein Ausdruck der Rücksichtnahme im Großen.


Wir üben Rücksicht, weil wir uns verbunden fühlen – wir sehen die Bilder tagtäglich, Instagram, die Tagesschau, überall sind wir mit der Klimakrise, mit Flächenbränden, mit Massentierhaltung konfrontiert. Wir ziehen eine Verbindung zwischen unseren Entscheidungen und einem größeren Ganzen. Aber wir ziehen keine Verbindung zwischen uns und unserem Umfeld. Die Mitbewohner unseres Hauses kennen wir nicht, wir grüßen im Treppenhaus, natürlich, aber wen nochmal?


Wenige Tage nach meinem persönlichen #mülltonnengate folgt #matratzengate. Ich erfahre davon aus einem Online-Artikel des Express. In dem Viertel, in dem ich lebe, hat jemand eine alte Matratze auf offener Straße entsorgt. Eine Woche verweilt die Matratze dort, bis sich jemand vor seinen PC setzt, Word öffnet, schnaubend Arial 24pt einstellt und in Rage „Welcher asoziale Dödel hier auch immer seine Matratze entsorgt hat, möge sie ganz schnell wegschaffen und zwar zackig!!!“ auf ein weißes Blatt tippt, das die Matratze wenig später schmückt.

Sowohl die Matratze als auch meine Belustigung über den Konjunktiv 1 auf dem Wutzettel sind kurz darauf verflogen. Was nicht verfliegt, ist der Wunsch nach mehr Rücksichtnahme im Kleinen, im Alltag, an den Mülltonnen, am Milchregal, in unseren Wohnvierteln. Wasch weiter mikroplastikfrei, trink weiter Pflanzen- statt Kuhmilch, alles prima, wirklich. Ich freue mich auch, dass du nach der Netflix-Doku über Überfischung deinen örtlichen Fischhändler jetzt mit Namen kennst. Genauso freuen sich sicher deine Nachbarn, wenn du sie mit Namen kennst, wenn ihr ein bisschen weniger vereinzelt, ein bisschen mehr verbunden seid. Vielleicht ist es jene Verbundenheit, die wir brauchen, um Rücksicht zu üben. Mein Altpapier habe ich anderweitig entsorgt, das Problem war schnell gelöst. Die Rücksichtslosigkeit, die Unverbundenheit, sie sind geblieben. Dabei würde ich sie viel lieber lösen.


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Carolin Jacobi ist 28 Jahre alt und lebt in Köln und ist seit 2021 Teil des Teams von Sans Mots. Neben Fuerteventura und Ferdinand von Schirach liebt Jacobi Sprache, Popkultur und feine Dinge und schreibt seit ihrer frühen Kindheit. Sie interessiert sich für Fragen des gesellschaftspolitischen Tagesgeschehens, Formen der menschlichen Begegnung und möglichst simple Memes. Auf Sans Mots schreibt sie die Kolumne „Und sonst so?“ über die großen Fragen in den kleinen Dingen unseres Zusammenlebens.






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